Diskussion zum Sprachgebrauch im politischen Diskurs

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Weil es in den bisherigen Threads 

• Diplomarbeit "Metaphern im politischen Gebrauch der Medien"
  
• Freheitsmetaphern in Amerikanischem Politischem Diskurs.   
  
• und zuletzt  Themeneingrezung BA/Sprache der Neuen Rechten
  

nicht unbedingt on-topic wäre, es aber trotzdem einen Diskussionsbedarf zu geben scheint, machen wir mal einen neuen Thread auf. Wer darf oder sollte was (nicht mehr) sagen und warum?

Ein aktuelles Beispiel ist doch Renate Künasts Klage gegen Facebook. Sie will erreichen, dass ein Falschzitat, das ihr zugeschrieben wird, von Facebook nicht nur im Original, sondern auch als Kopie gelöscht werden soll. So unterstützenswert das Vorhaben ist, hätte eine erfolgreiche Klage doch erheblichen Einfluss auf digitale Kulturpraktiken wie die Erstellung von Memes, die ja gerade davon leben, dass Bilder und Texte in neue, unvorhergesehene und von Beteiligten oft nicht autorisierte Zusammenhänge gebracht werden.

Grüezi
PeterSilie

(27.04.2021, 11:18:22)janwo schrieb:  Wer darf oder sollte was (nicht mehr) sagen und warum?

Tut mir leid. Mit dieser Eingrenzung fällt das für mich Auffälligste unter den Tisch:
Durch das berühmte 'Framing' wird einem der 'begriffliche Boden unter den Füßen weggezogen'. Bestimmte Sachen KÖNNEN mit den bis dahin üblichen Mitteln nicht mehr gesagt werden. Mein gängiges Beispiel: Flüchtling nimmt die allgemeinere Bedeutung von Migrant an. Mit Flüchtling kann dann nicht mehr auf die speziellen (und graduellen) Bedingungen einer Flucht Bezug genommen werden. Das wird aber nicht deutlich, weil eben der Unterschied nicht klar gemacht wird - für rechtliche Entscheidungen wichtig.

X kann nicht (mehr) gesagt werden ist eine Passivform, die es ermöglicht, die Handlungsträgerbezeichnung, wie hier geschehen, wegzulassen. Wir alle wissen aber, dass es in der Natur der Sache liegt, dass es bei 'sagen' einen solchen Handlungsträger in der außersprachlichen Wirklichkeit geben muss, im Gegensatz zu Verben wie z:b. 'schneien'. D.h. die Frage nach dem "Wer" wird von Dir verschleiert. Zweitens frage ich mich, ob Du können hier nicht im Sinne von 'in der Lage, fähig ein, etwas zu tun', sondern Im Sinne von 'die Erlaubnis haben, etwas zu tun' gebrauchst. Und drittens frage ich mich, ob Deine Behauptung auf empirischen Daten beruht und mithin verifizierbar ist.

Ich glaube eher, das es Leute gibt, die es gerne hätten, dass diese Begriffe verschwimmen, damit man die Abweisung von Flüchtlingen als die leichter verdauliche und gesellschaftlich akzeptablere Ablehnung von "reinen" Immigranten verkaufen kann. Ob der tatsächliche Sprachgebrauch der Allgemeinheit das hergibt, dass diese Begriffe sich in der von Dir beschriebenen Weise wandeln, kann ich hier aus der Ferne nicht nachvollziehen.

(08.05.2021, 16:51:22)janwo schrieb:  Ob der tatsächliche Sprachgebrauch der Allgemeinheit das hergibt, dass diese Begriffe sich in der von Dir beschriebenen Weise wandeln, kann ich hier aus der Ferne nicht nachvollziehen.

Dass 2015ff. öffentlich in erster Linie von 'Flüchtlingen' die Rede war, ist von mir nicht statistisch belegt, entspricht nur meiner Wahrnehmung; siehe z.B. auch "Flüchtlingskrise". ("Migrationskrise" habe ich allenfalls selten gehört.) Dieser Sprachgebrauch scheint mir jedenfalls gleich zu Beginn der 'Krise' vorherrschend gewesen zu sein, also in einer Zeit, in der bzgl. 2014/15 Angekommener nur wenige Urteile vom BAMF gefällt worden waren. Allerdings höre ich inzwischen öfter "Geflüchtete" (siehe http://www.sprachlog.de/2012/12/01/fluec...luechtete/ ). Inwiefern etwas beabsichtigt oder nur in Kauf genommen wurde, ist eine weitere Frage.

Ich finde, so schwer ist das Problem nun aber auch nicht. Du hast ja auch in einem Satz erklärt, auf welcher Definitionsgrundlage du die beiden Begriffe verstehen willst in einer möglichen Debatte oder Diskussion. Deswegen sehe ich da kein großes Unvermögen, die Dinge zu benennen. Verantwortliche für rechtliche Belange, wie du erwähnst, werden sich genauso sehr mit den Begriffen auseinander gesetzt haben. Ich sehe aber auch nicht, dass die Begriffe allgemein verschwimmen, nur weil die "Welle" nach der zahlenmäßig höheren Anzahl an Flüchtlingen an der "Welle" benannt wurde, nicht anderen Mitgliedern einer "Welle". Ich habe bisher, persönlich, noch nicht wahrgenommen, dass der Großteil der Leute zum Unvermögen neigt, Migrant:in von Flüchtling zu unterscheiden. Und für solche die, da kann man immer noch aufklären, anekdotenweise gibt es bestimmt mal Individuen. Es ist für mich aber kein Systemproblem. Genauso sehr kann man argumentativ sehen, dass auch sehr wohl unter stark rechten Individuen die Begriffe vermengelieren und sie in Flüchtlingen reinweg Migrant:innen sehen (wollen).

(09.05.2021, 09:19:47)Kevin schrieb:  dass der Großteil der Leute zum Unvermögen neigt, Migrant:in von Flüchtling zu unterscheiden. Und für solche die, da kann man immer noch aufklären, anekdotenweise gibt es bestimmt mal Individuen. Es ist für mich aber kein Systemproblem. Genauso sehr kann man argumentativ sehen, dass auch sehr wohl unter stark rechten Individuen die Begriffe vermengelieren und sie in Flüchtlingen reinweg Migrant:innen sehen (wollen).

Wenn man das thematisiert, wird der Unterschied natürlich bewusster. Dispositionell ist wohl jeder zu der Unterscheidung in der Lage.     Mich ärgert der Standardzugriff z.B. der Presse und somit der öffentlichen Diskussion. Und der lief über "Flüchtling" (oder "Geflüchtete").  Ich nenne Greifvögel eben nicht "Bussard", sondern verwende erst mal das Korrektere.  (Bloß, da ist es weniger relevant.)

In der Realität sind Migrationsgründe kompliziert und ist der Fluchtcharakter graduell oder folgt er eher 'Familienähnlichkeiten'. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausl...70519.html

Ich muss aber sagen, dass es etwas pedantisch scheinen kann, wenn man auf so etwas beharrt. Sicher kann ich nachvollziehen, was du meinst. Aber es ist doch klar, dass ein catchiges Behelfskeyword in den Medien nicht die ganze Ausdifferenzierung einer aktuellen Lage wiedergeben kann und auch nicht muss. Ohne mich jetzt etwaiger Zahlen zu bedienen, würde ich aber aus dem Gedächtnis heraus sagen, dass bei der "Welle" der überwiegende Großteil per definitionem unter dem Begriff "Flüchtling/Geflüchtete:r" fiel. Dass unter dieser Welle auch viele fielen, die man als Migrant:innen definieren kann, wurde aber meiner Meinung nach genug thematisiert und war vielen Leuten bekannt, trotz des Begriffs. Auch eben weil es oft genug Thema werden musste, wenn es von vielen politisch extremeren Richtungen tausende "Ja, aber"s gab. Syrische Flüchtlinge wurden Migrant:innen genannt, oft genug war das Thema, wie sich Wirtschaftsflüchtlinge von Kriegsflüchtlinge unterscheiden und oft genug gab es Wissensbeiträge, wer welches Asyl bekommen könnte und dass es für die, die nicht als Flüchtling per se gelten, überwiegend keines geben würde.
Das meine ich nur damit, dass dieser 'Misnomer' nun keine Riesendebatte wert ist als systematische Frage. Ich sage auch Tesafilm, obwohl sich da nun semantisch Fragen aufwerfen. Ein harsches aber vielleicht analoges Beispiel: Der Holocaust wird gemeinhin als der Völkermord an den Juden und Jüdinnen definiert, obwohl die (wahrscheinlich?) meisten Historiker:innen darunter auch den Völkermord an zahlreichen anderen Gruppen wie Sinti:zze und Rom:nja, Homosexuellen, Behinderten und Kranken subsumieren würden.

(09.05.2021, 19:24:18)Kevin schrieb: Dass unter dieser Welle auch viele fielen, die man als Migrant:innen definieren kann

"Migrant" schließt "Flüchtling" ein; aber nicht umgekehrt. ALLE waren Migranten.

Es soll ja linguistisch bleiben. Thema soll hier wohl nicht sein, wie die 2015-Migration zufällig beschaffen war. Es geht vielmehr darum, dass ein ungeeigneter Oberbegriff den Diskurs bestimmte. (Dass dabei politische Motive nicht unerheblich waren, vermute ich durchaus.)

Im Detail haben mir Schilderungen, persönliche und gelesene, allerdings sehr nahegelegt, wie groß die Rolle eines Sogs war. Dabei ist zweifellos keiner aus Jux und Dollerei (schreibt man das so?) migriert.

Zitat:"Migrant" schließt "Flüchtling" ein; aber nicht umgekehrt. ALLE waren Migranten.

Ja, da habe ich mich etwas ungenau ausgedrückt. Ich meinte die Migrant:innen, die nicht als Flüchtlinge gelten würden. 

Wikipedia benutzt den Oberbegriff "Europäische Flüchtlingskrise" und gibt in Klammern als Synoyme auch "Migrationskrise" oder "Asylkrise". Ich würde einmal vermuten, beide letzteren sind Begriffe, die für dich eher zutreffen würden? (Weiter unten im Artikel geht es auch um die Diskussionen der Begriffe.)

Ich würde nun nicht direkt denken, dass durch den Begriff politisch bewusst beeinflusst wurde, dass auch Migrant:innen, die nicht als Flüchtlinge gälten, darunter verstanden werden sollten, um den Eindruck zu erwecken, sie seien ebenfalls Flüchtlinge. Aber gerade solche Begriffe, wie in dem anderen Thread ja auch thematisiert, sind catchiger, da sie weniger sachlich sind und andere Emotionen bedienen. Und weil sie dann so weitverbreitet sind, nehmen viele Medien es wahrscheinlich als Kurzform auf. Aber wie gesagt, naiv wie ich bin, unterstelle ich kein wirkliches breit-gesätes politisches Kalkül hinter der Wahl "Flüchtlings-" statt "Migrations-", sondern einfach Ad-Hoc-Hyperonymisierung aufgrund der Mehrzahl an Flüchtlingen gegenüber den nicht-geflüchteten Migrant:innen.

Ich glaube, ich hätte kein Problem, das Ding, wenn fachlich, "Flüchtlings- und Migrationskrise" als Langform zu nennen und als Kurzform auch Gebrauch von Asylkrise oder Migrationskrise zu machen.

(09.05.2021, 19:41:16)kunnukun schrieb: "Migrant" schließt "Flüchtling" ein; aber nicht umgekehrt.

Gut, ich glaube, langsam kommen wir der Sache näher :) So, wie ich das sehe, gibt es in dem Kontext mindestens zwei verschiedene Definitionen. Einmal die von dir genannte und einmal die, nach der "Flüchtling" und "Migrant:in" sich durch (fehlende) Freiwilligkeit unterscheiden, also eben nicht in einer Ober-Unterbegriff-Relation stehen. Es ist, soweit ich das verstehe, auch nicht so, dass die zweite Definition durch Diskursverschiebungen, Framing, etc. aus der ersten entstanden wäre. Hier zum Beispiel mal, was die Bundeszentrale für politische Bildung dazu sagt:

"Auf den ersten Blick erscheint diese Frage leicht zu beantworten. Nach der einfachen Definition, dass Migrantinnen und Migranten ihren Lebensmittelpunkt für längere Zeit über eine (internationale) Grenze verlegen, sind auch Flüchtlinge Migranten. In der internationalen Flüchtlingsforschung sowie dem internationalen Flüchtlingsrecht wird jedoch häufig zwischen Migranten und Flüchtlingen unterschieden. Dabei ist die Annahme leitend, dass Flüchtlinge gezwungen seien, ihren Wohnort zu verlassen, während Migranten dies freiwillig täten. Man unterscheidet in diesem Zusammenhang daher auch zwischen freiwilliger und unfreiwilliger bzw. erzwungener Migration. Analog gibt es im internationalen Recht durch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das New Yorker Zusatzprotokoll von 1967 die Verpflichtung, Flüchtlinge nach internationalen Standards aufzunehmen. Die Steuerung von (freiwilliger) Migration bzw. Einwanderung wird dagegen weitgehend der Souveränität der Nationalstaaten überlassen. Der Versuch, eindeutig zwischen (legitimen) Flüchtlingen und (möglicherweise illegitimen) Migrantinnen und Migranten zu unterscheiden, hat also auch eine starke politische Intention. …" (https://www.bpb.de/gesellschaft/migratio...migration/)

Vor dem Hintergrund verstehe ich ein bisschen besser, weshalb hier vielleicht Verständnisprobleme untereinander bestehen. Aus meiner Sicht funktioniert das angesprochene Framing nämlich auch – und insbesondere – in die andere Richtung (s. a. letzter Satz des Zitats).

THF: "Nach der einfachen Definition, dass Migrantinnen und Migranten ihren Lebensmittelpunkt für längere Zeit über eine (internationale) Grenze verlegen, sind auch Flüchtlinge Migranten. In der internationalen Flüchtlingsforschung sowie dem internationalen Flüchtlingsrecht wird jedoch häufig zwischen Migranten und Flüchtlingen unterschieden."

Das ist merkwürdig, denn auch wenn man "Migrant" als Oberbegriff nimmt, bedeuten "Migrant" und "Flüchtling"  Verschiedenes - etwa so wie "Hund" und "Pudel".

Sorry, ich komme mit der Zitatfunktion doch nicht zurecht. 

Kevin: "Ich glaube, ich hätte kein Problem, das Ding, wenn fachlich, "Flüchtlings- und Migrationskrise" als Langform zu nennen."   Das ist jetzt sehr üblich. Aber wenn Migranten Flüchtlinge einschließen unnötig, oder?

Vielleicht nur als kleiner empirischer Zusatz: Kreußler und Wengeler (2019) haben sich u.a. an aktuelleren Daten von 6 Zeitungen die Ausdrücke "für die in Deutschland bzw. Europa Schutz suchenden Menschen" angeschaut. "Flüchtling" fände sich sowohl in positiver als auch negativer Konnotation (i.d. FAZ bspw. hauptsächlich negativ). Daneben fände sich "Asylbewerber" bzw. "-suchende" sowie "Migrant" bzw. "Immigrant". Letztere würden tendenziell synonym zu "Flüchtling" genutzt.
Wäre vllt. spannend, das auch nochmal für Parteien anzuschauen (oder gibt es das schon?), in der Presse ist die Unterscheidung vllt. einfach nicht so relevant bzw. wird der stlistischen Variantion untergeordnet. Für die Politik dagegen vllt. schon (um z.B. bestimmte Gruppe die Legitimation abzusprechen), wobei ja auch die AFD von Flüchtlingen spricht, glaube ich.

Schade, dass ich nicht mehr in Deutschland unterrichte. Das wäre doch ein tolles Thema für eine Examensarbeit.

(10.05.2021, 08:17:51)reger schrieb:  Daneben fände sich "Asylbewerber" bzw. "-suchende" sowie "Migrant" bzw. "Immigrant". Letztere würden tendenziell synonym zu "Flüchtling" genutzt.
[...]   wobei ja auch die AFD von Flüchtlingen spricht, glaube ich.

So arrogant es ist: Die AfD ist nach meiner Erfahrung für derartige Kritik auf einer Meta-, nämlich semantischen, Ebene nicht zu gebrauchen, obwohl sie für best. Zwecke damit gut hätte argumentieren können. (Sie hängt wohl doch an Stammtischparolen.)     Aber das ist wieder eher Politik.  Zu dem von reger oben Gesagten:  Eben jener synonyme Gebrauch ärgert mich ja seit jener Zeit. Und ich halte das nicht für pedantisch, weil es für Bedeutungen und damit für öffentlichen Diskurs wesentlich ist, in der Sprachgemeinschaft 'gemeinsam gewusst' zu sein. Und jene Bedeutungsunterscheidung ist sehr bedeutsam für das Asylrecht (das aus meiner Sicht spät. seitdem kaum noch als solches umzusetzen ist - ich wäre ja für viel mehr Liberalität, wenn ich wüsste, wie das mit Sozialversicherungen vereinbar wäre und ob die Polizei das auf Dauer noch 'wuppen' könnte).     Dass "Flüchtling" mehr oder weniger fest zum Oberbegriff wurde, bleibt für mich schwer zu ertragen, umso mehr, als 2015 auch noch Vergleiche mit Flüchtlingsbewegungen Ende des 2. WK beliebt wurden.