Was hat er nun gemeint … mit vorwärts?

Hallo Ihr, folgendes: Die Reiterwelt rauft sich die Haare, Eduard Gustav Steinbrecht (* 1808 in Ampfurth; † 8. Februar 1885 in Berlin)  war ein deutscher Reiter. 
Er hat den Satz geprägt, reite Dein Pferd vorwärts und richte es gerade! 
In heutiger Zeit erfährt dieser Grundsatz zeitgemäße Interpretationen und sorgt regelmäßig für Kriegsähnliche Zustände in der Reiterwelt, weil mit Vorwärts jeder so seine eigene Interpretation und damit den Stein der Wahrheit gefunden hat. 

Vielleicht noch kurz zur Erklärung, um einen Reiter gesunderhaltend tragen zu können, muss ein Pferd mehr Last hinten aufnehmen … normal ist die Last auf den Vorderbeinen. Das Pferd muss also lernen, Kniebeuge hinten und Liegestütze vorn unter Reiterlast auszuführen und dabei noch vorwärts zu laufen. Tragkraft, Schubkraft. 

Und nun beginnt das Dilemma, die einen  meinen, mit vorwärts ist schnell gemeint. Die anderen meinen, ohne Zögern. Und wieder andere haben andere Interpretationen. Einig sind sich jedoch alle über die Richtung, nach vorne. Aber keine weiß wie er es genau gemeint hat. Ich leider auch nicht. 

Und nun zu meiner Frage, gab es zu Steinbrechts Zeiten eine anderes Verständnis für dieses Wort, war es inhaltlich mit mehr gefüllt, als bloßes nach vorne gehen? 

Danke für das lesen und ja, vermutlich löse ich auch mit dieser Frage Kopfschütteln aus, es sei den hier befinden sich Reitersleut. 

Würde es denn nicht genügen, unter "vorwärts" hier 'nach vorne' zu verstehen?

Leider nein, genau darin liegt das Problem. Ich habe vergessen zu schreiben, dass die Kopf/Halshaltung (Hebelwirkung) eine sehr bedeutenden Rolle dabei spielt.  Die einen meinen, er habe mit vorwärts einen tiefen Halshebel gemeint, die anderen sagen, dass kann nicht sein, dann liegt die Last ja wieder vorn. 
Vorwärts sollte ein Pferd auch sein, wenn es steht. Wir haben auch Begriffe wie, das Pferd muss gerade gebogen sein. Aber darüber herrscht Einigkeit ?.

(08.08.2022, 06:41:48)DocRo schrieb: Vorwärts sollte ein Pferd auch sein, wenn es steht.

Das scheint mir widersprüchlich zu sein.  "vorwärts" charakterisiert normalerweise eine Bewegung.


https://www.pferderevue.at/magazin/ausbi...htig-.html
Unter einem Bild: „Trotz der Vorwärts-Abwärts-Dehnung (bei der hier die Nase des Pferdes noch ein wenig mehr nach vorn weisen könnte) bewegt sich der Pferdekörper nicht bergab, sondern weiterhin ausbalanciert auf einer Waagerechten“
Auch hier: „Wie tief sich ein Pferd optimalerweise im Vorwärts-Abwärts dehnen sollte, hängt sehr von seinem Exterieur ab. Die ideale Dehnungshaltung kann deshalb von Pferd zu Pferd stark variieren“
Ist damit im Fachjargon eine bestimmte Haltung gemeint?

Hey Dankeschön das Du Dich mit meiner Frage beschäftigst … also vorwärts ist wie Du genau beschreibst eine Bewegung nach vorn, allerdings … ! Reiten wir ja nicht nur einen Körper, sondern einen Geist, eine Psyche … weiß der Geier wie es das Pferd sieht , jedenfalls….das vorwärts ist für ein Pferd überlebenswichtig, Fluchttier Flucht nach vorne, … die Haltung auch innere Haltung des Pferdes zum Thema Vorwärts ist sowohl physisch als auch psychisch zu verstehen. Physisch ist unerwünscht, weil es da den Kopf hochwirft, den Rücken wegdrückt und in den falschen Muskelkreisläufen mit Cortisol angefüllt, agiert und sich mit dem Mensch auf dem Rücken Schaden zufügt, zumindest auf Dauer. Daher wollen wir ein entspanntes Pferd, dass innerlich auf vorwärts eingestellt ist. Allerdings ohne Cortisol, weil schädlich … rein äußerlich gibt es da Marker.

Ich beschreibe es mal so … Du stehst an einem steilen Berg mit Deinem Auto, Du könntest jederzeit nach vorn aber Du stehst, Spiel mit der Kupplung, dadurch nimmt Dein Körper und auch der Körper des Fahrzeuges eine bestimmte Haltung ein, ohhh … das ist ziemlich weit weg, … es ist kompliziert… aber ihr befindet Euch nicht auf der Flucht. Diese bestimmte Haltung entsteht innerlich, ihr wisst ja was ihr wollt und dies ist im Äußeren sichtbar. Das Auto hat die Ohren vorne, ist in sekundenbereitschaft und wartet auf Deinen Willen , jetzt los zu dürfen. Aber es steht. 

Dies ist meine Interpretation des Steinbrecht seinen ( ich schreibe dies jetzt mal so, ich schmunzel selbst darüber, aber so komme ich mir auch gerade vor) vorwärts, ich denke das er damit das gemeint hat.  

Also die Körperhaltung im Vorwärts des Pferdes ist die Sichtbare innere Einstellung des Pferdes. Ein Pferd im Vorwärts kann auch stehen und dennoch innerlich im Vorwärts sein. So wie ein Jagthund , der steht auch und ist jederzeit bereit … er ist innerlich im vorwärts. 

Und der Steinbrecht, so wie er halt war, sagt nur … reite Dein Pferd vorwärts. … ja … was hat er wohl damit gemeint.

Hier ein Filmchen … Nuno Oliveira, leider auch schon nicht mehr hier, sonst würde ich ihn fragen. Das ist Reiten auf höchstem Niveau…. https://youtu.be/TfiTTyi2He8

Worauf ich hinauswollte:

Wenn "vorwärts"  eine Haltung beschreiben soll, wird das Wort nicht so verwendet, wie es normal wäre:  mit der Absicht, eine Bewegung zu beschreiben.   Dann entspricht diese Verwendung wohl eher einem Jargon, in dem es eben nicht das bedeutet, was es normalerweise bedeutet. Dann ist es auch kein Problem, es so zu verwenden. Das ist ähnlich wie bei Metaphern: Wenn ich sage "Wow, die da drüben ist heiß ...", dann meine ich natürlich nicht, dass sie eine hohe Temperatur hat, sondern etwas anderes.

Ja, … wenn vorwärts eine Haltung beschreiben soll…. Ja, diese Idee ist gut. Mit der Lupe betrachtet, bewegt sich ein Pferd ja generell vorwärts. Es wäre ja unsinnig der Reiterwelt zu sagen, reite es vorwärts , dies tut das Pferd ohnehin.

@DocRo
In Steinbrechts "Das Gymnasium des Pferdes" (1886) finde ich Folgende Begriffserklärung von ihm selbst:

(https://books.google.de/books?id=8Pzrg5qI0OgC S. 61)



Ich habe keine Ahnung vom Reiten, aber ich muss zugeben, dass für mich – ohne den Reit-Kontext  zu kennen – keine der beiden Interpretationen aus deinem Eingangspost unmittelbar aus dieser Passage hervorgeht. Im Gegenteil klingt es für mich sogar so, dass die "schnell-Interpretation" explizit verneint wird. Den Punkt aus deinen späteren Post, dass "Vorwärts" eine Art mentale Haltung sei, lese ich hier aber tatsächlich auch heraus (keine Ahnung, ob da bereits der hermeneutische Zirkel zugeschlagen hat ;) ).

Noch was Allgemeines: In der Linguistik und Sprachphilosophie gibt es sehr viele Überlegungen dazu, was "Bedeutung" sein soll und wie man diese bestimmen kann. Und die literatur- und kulturwisschenschaftlichen Interpretationstechniken kommen noch dazu. Eine abschließende, definitive Klärung ist daher aus meiner Sicht nicht möglich. Das, was Steinbrecht geschrieben hat, was er damit meinte und wie das in den ~140 Jahren seitdem verstanden wurde, sind für mich persönlich drei verschiedene Dinge.

Du hattest auch noch gefragt, welche Bedeutung "vorwärts" zu Steinbrechts Zeit wohl hatte. Ich schaue für solche Fragen gerne im Grimm'schen Wörterbuch nach: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=V16325 Allerdings sehe ich da auf den ersten Blick auch keine Reit-spezifischen Erläuterungen. Um sich dem noch weiter zu nähern, könnte man zum Beispiel den Reitdiskurs zu dieser Zeit analysieren (z.B. andere Reitliteratur, Beiträge aus Zeitschriften etc.). Das ist aber recht aufwändig und setzt das Vorhandensein von entsprechendem Material, etwa ein geeignetes Korpus, voraus.

Also … ich bin begeistert. Wirklich! Wenn der Steinbrecht ohne Reiterkontext gelesen wird, dann ergeben sich vollkommen sachliche und objektive Sichtweisen. Definitiv meinte er mit Vorwärts, weit mehr als die reine Bewegung. Gab es zu seinen Zeiten das Wort Mental schon?

So … nun habe ich das Vorwärts aus dem Wörterbuch gelesen. Auch da steht ja … die Richtung nach vorn, … das schon in sich die Vorstellung einer Bewegung enthält. 

Es muss nach vorne denken auch auf der Stelle und im Rückwärts. Ja so ergibt es Sinn für mich.