Morphologische Antonyme, die keine sind

[Ausgegliedert aus dem Thread "Gibt es Sprachen die für Eigenschaftswörter einen Nullwert haben?"]

Hallo,
ich habe eine Frage, die vielleicht irgendwie zum Thema passen würde.
Im Niederdeutschen gibt es die Adverbien "bannig" und "unbannig", die etymologisch mit dem deutschen "Bann" verwandt sind. Das Interessante ist aber, dass beide Adverbien das Gleiche bedeuten: de. "sehr". Also obwohl das eine Wort durch "un-" die Negierung des anderen sein sollte.
Gibt es für so etwas einen Namen? Kennt ihr andere Beispiele?

Eine Parallele, die mir dazu einfällt, sind die nicht-antonymischen Substantivpaare: Unmenge - Menge, Unsumme - Summe, Untier - Tier, usw.

P.S.: Das {un-} hat hier eine augmentative Bedeutung, keine privative (negierende). Es handelt sich hier also um zwei homonyme Formen.

Ich denke, sowas kann auch oft und schnell durch verschiedenste pragmatische Prozesse entstehen. Entweder man benutzt eine doppelte Verneinung wie "keine Unmenge", um "Menge" zu meinen, und lässt irgendwann den ersten Verneinungsteil weg, oder man benutzt das Gegenteil als ein Ausdruck der Höflichkeit, ähnlich wie "Kannst du nicht die Tür zumachen?", aus dem dann irgendwann ein lexikalisiertes Homonym entsteht.

Das klingt einleuchtend. Dann wären es Polyseme.

Kluge/Seebold sagen gar nichts zu den Nebenbedeutungen. Pfeifer und auch Duden 7 gehen angesichts der stets rein privativen (negierenden) Belege in der germanischen Verwandtschaft davon aus, dass sich die anderen Bedeutungen im Deutschen über eine Zwischenstufe entwickelt haben, die eine 'Abweichung von der Norm' bezeichnet hat. Quasi wie "Was für ein Regen! Das ist doch kein Wetter!" → Unwetter. Von dort aus dann die Weiterentwicklung zum Augmentativ wie in Unsumme.


Ein weiteres Beispiel wäre vielleicht {ver-}. Es hat oft eine terminative Bedeutung in der Richtung 'zu Ende' wie in verhungern, verblühen, verzeihen, dann aber auch eine frustrative ('vergeblich') Bedeutung wie in verirren, verlaufen, und eine distributive wie in verteilen, verwischen. Diese alle sind semantisch eigentlich nahe genug zueinander, dass sie kein Problem darstellen. Aber dann gibt es auch inchoative(?) wie verlieben, verlieren, die eher den (zumeist wohl unbewussten oder unabsichtlichen) Beginn einer Handlung ausdrücken. Und wo genau versuchen da hineinpasst, wüsste ich gerade selbst gern.

(02.10.2012, 13:08:24)Kevin schrieb: Also obwohl das eine Wort durch "un-" die Negierung des anderen sein sollte.
Gibt es für so etwas einen Namen? Kennt ihr andere Beispiele?

Da fällt mir das englische Paar flammable und inflammable ein, das dafür häufig herangezogen wird.

(23.02.2019, 12:46:20)lingucat schrieb: Da fällt mir das englische Paar flammable und inflammable ein, das dafür häufig herangezogen wird.

Historisch gesehen ist es da ja umgekehrt als bei Summe > Unsumme; flammable kommt von inflammable, bei welchem das in eigentlich eher "in, hinein" bedeutet. Die Interpretation von in+flammable als nicht+entflammbar ist erst relativ neu.

(Eine Auswahl an Wörtern, die ähnlich wie Untiefe oder inflammable zwei widersprüchliche Bedeutungen haben, kann man übrigens auch im Wiki-Artikel "Januswort" finden.)

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(23.02.2019, 11:29:54)janwo schrieb: Das klingt einleuchtend. Dann wären es Polyseme.

Kluge/Seebold sagen gar nichts zu den Nebenbedeutungen. Pfeifer und auch Duden 7 gehen angesichts der stets rein privativen (negierenden) Belege in der germanischen Verwandtschaft davon aus, dass sich die anderen Bedeutungen im Deutschen über eine Zwischenstufe entwickelt haben, die eine 'Abweichung von der Norm' bezeichnet hat. Quasi wie "Was für ein Regen! Das ist doch kein Wetter!" → Unwetter. Von dort aus dann die Weiterentwicklung zum Augmentativ wie in Unsumme.

Dann könnte man die Entwicklung der Un-Wörter (:-)) also so betrachten, was ja auch durchaus Sinn ergibt:

1. un- als Privativ: Unglück, Unschuld, ...
   
2. un- als Pejorativ (Un-X ist es nicht wert, als richtiges X angesehen zu werden): Untier, Unwort, Unwetter, Unmensch
   
3. un- als Augmentativ mit negativer Konnotation: Unmenge, Unzahl, Unsumme, Unkosten
   
4. un- als Augmentativ ohne Werturteil(?): Unmenge ("[Ich bin froh über d]iese Unmenge von freiwilligen Helfern" (x))
   

Allerdings würde ich Untier, Unwetter, etc. auch nicht unbedingt in die augmentative Kategorie packen, sondern eher in die Zwischenstufe. Ich habe auch den Eindruck, dass die Kategorien auch zunehmend semantisch eingeschränkter werden, und mir fällt es schwer, Beispiele zu finden, wo un- ein "reiner" Augmentativ ohne negative Bedeutung ist, gerade wenn das entsprechende Wort nicht in einem explizit positiven Kontext verwendet wird.

(23.02.2019, 11:29:54)janwo schrieb: Ein weiteres Beispiel wäre vielleicht {ver-}. Es hat oft eine terminative Bedeutung in der Richtung 'zu Ende' wie in verhungern, verblühen, verzeihen, dann aber auch eine frustrative ('vergeblich') Bedeutung wie in verirren, verlaufen, und eine distributive wie in verteilen, verwischen. Diese alle sind semantisch eigentlich nahe genug zueinander, dass sie kein Problem darstellen. Aber dann gibt es auch inchoative(?) wie verlieben, verlieren, die eher den (zumeist wohl unbewussten oder unabsichtlichen) Beginn einer Handlung ausdrücken. Und wo genau versuchen da hineinpasst, wüsste ich gerade selbst gern.

... und natürlich das Gegenstück {er-}, das inchoativ sein kann (erblühen, erwachen, erröten) aber auch terminativ (erreichen, erlöschen, ertrinken); ebenso {ent-}, wie in entbrennen, entspringen, entstehen vs. entlaufen, entsagen, entbinden.
Bei erwachsen und entwachsen (also, im Sinne 'Wachstum', nicht 'Bienenwachs') und erwecken könnte ich mir Kontexte vorstellen, in denen die Formen ambig sind und nur durch Tempus/Aspekt oder Adverbien o.ä. klar wird, welche Lesart gemeint ist.