"Ich schlage dir ins Gesicht" Kasuswechsel zu Dativ

Hallo,
ich frage mich gerade, wie man genauer folgenden Umstand erklärt:

Nebst "Ich schlage dich gleich ins Gesicht." geht ja auch der Satz mit Dativ "Ich schlage dir gleich ins Gesicht." (Obwohl ich den ersteren ganz ungewöhnlich da nicht häufig gehört finde.) Ich wundere mich gerade, was dahintersteckt, syntaktisch hier den Dativ zu benutzen. Eigentlich ist "schlagen" doch eines der Paradebeispiele für linguistische Sätze mit klarer Transitivität. Es gibt ja auch Benefaktivdativ etc., aber wieso wird er gerade hier gebraucht? Für mich haben die beiden Sätze keine sonderliche Bedeutungsunterschiedlichkeit, sodass durch einen indirekten Dativ bei der Bedeutung geschraubt werden könnte. Wird der Dativ hier benutzt, um die semantische Rolle eines Experiencers darzustellen?
Auch ändert sich die obligatorische Struktur der Komplemente, bei dem Akkusativ reicht "dich" aus, bei dem Satz mit dem Dativ werden beide Elemente obligatorisch. Es fühlt sich aber auf einer Ebene komisch an, "schlagen" ohne einen Akkusativ zu benutzen und hier nur mit Dativ und einer obligatorischen Erweiterung. 

Wie nennt man hier den Gebrauch des Dativs? Welche weiteren Fälle wie diesen fallen euch ein? (Außer natürlich "schlagen" durch hauen, treten, boxen etc. auszutauschen)
Mir würde spontan sowas einfallen wie "Ich schminke dich/ich schminke dir das Gesicht." 

Vielen Dank für Ideen für meinen heute müden Geist. :)
Kevin

Hi!

Für mich gibt es einen subtilen, aber klaren Unterschied:

Bei "Ich schlage dich ins Gesicht" wird die Handlung des Dich-Schlagens mit der zusätzlichen Information des "Zielortes" beschrieben.
Bei "Ich schlage dir ins Gesicht" wird die Handlung des Ins-Gesicht-Schlagens mit der zusätzlichen Information des Experiencers beschrieben.

Zitat:Wie nennt man hier den Gebrauch des Dativs? 

Ich hätte es jetzt aus einem Bachgefühl heraus einen "partitiven Dativ" genannt, da in "Ich schlage dir ins Gesicht" nur ein Teil des Experiencers (dir) Patiens der Handlung ist, während im Satz "Ich schlage dich ins Gesicht" eher die Gesamtheit des Objekts als (er)leidend dargestellt wird, nur mit der Spezifizierung der Herkunft des Leids. Das ist zumindest meine Empfindung.

Zitat:Welche weiteren Fälle wie diesen fallen euch ein? (Außer natürlich "schlagen" durch hauen, treten, boxen etc. auszutauschen)

Mir würde spontan sowas einfallen wie "Ich schminke dich/ich schminke dir das Gesicht." 

Ein ähnliches Phänomen gibt es beim Verb stoßen: "Ich stoße mich" vs. "Ich stoße mir den Zeh". In der reflexiven Verwendung gibt es allerdings nicht die Variante "Ich stoße mich gegen den Zeh".
Bei transitiver Verwendung gibt es aber folgende Besonderheit: "Ich stoße dich gegen den Kopf" vs. "Ich stoße dir gegen den Kopf". Hier hat der erste Satz die idiomatische Bedeutung "Ich habe deine Gefühle verletzt" (hier auch wieder: die Gesamtheit des Objekts leidet), während der zweite wörtlich zu nehmen ist und eine ähnliche Bedeutung wie "Ich schlage dir ins Gesicht" (auch wieder nur partitiv) hat.


Hilft Dir das weiter? (:

LG
Yaouoay

Ich würde hier ein Verb mit zwei unterschiedlichen Valenzen annehmen. Du hast es ja selbst schon erklärt. Im einn Fall haben wir eines obligatorisches Akkusativobjekt und im anderen Fall ein obligatorisches Dativobjekt mit einer obligatorischen Angabe. Dass beide die gleiche Bedeutung haben, ist nicht weiter ungewöhnlich. Bei uns zuhause gibt es einen weiteren Unterschied, der in das Muster passt.

Ich sage: Ich esse einen Apfel. / Ich trinke ein Bier.
Meine Frau sagt: Ich esse mir einen Apfel. / Ich trinke mir ein Bier.

Meine Frau fände es höchst suspekt, beide Verben ohne mir zu verwenden. Auch hier also dieselbe Bedeutung mit unterschiedlicher syntaktischer Realisierung der Aktanten, bzw. unterschiedlicher Obligatorität der Aktanten.

Beste Grüße an den müden Geist
PeterSilie

Ich kenne das vor allem als ditransitive Konstruktion mit einem zusätzlichen Dummy "Theme": "Ich hau' dir gleich eins/eine auf die Nase." Meine These wäre daher, dass es sich um eine grammatikalisierte Verkürzung der o.g. Konstruktion handelt. Müsste man mal eruieren. Vermutlich ist es etwas komplizierter und stark Verb-abhängig. Interessant ist m.M.n. auch, dass das Verb in diesen Konstruktionen umgangssprachlich auch einfach "geben" sein kann, statt des spezifischen Verbs.

Soundtrack dazu: Torfrock "Der Boxer"
[Video: https://www.youtube.com/watch?v=LxJaK5T2OBI]

(So alt ist Torfrock schon?!... Aber sehr schön, ich mag die. :))

Zum Thema "Ich esse mir einen Apfel." sagt der englische Wikipediaartikel zum Benefaktiv auch ein bisschen: Benefactive case. 

Allerdings ist das ein "faktultatives" weiteres Argument und ein Akkusativkomplement bleibt erhalten. Aber vom Sprachgefühl her klingt es trotzdem verwandt, in dem Sinne, dass der Dativ hier die thematische Rolle eines Rezipienten, Experiencers oder Undergoers bezeichnet wie in den anderen Beispielen. 

Ich finde nur diesen Vorgang der Änderung der Argumentenstruktur so merkwürdig. Mein Beispiel mit "Ich schminke dir das Gesicht." ist falsch, sehe ich nun, das hat ja ein Akkusativargument "das Gesicht". Der Dativ ist dann klar ein Benefaktiv. Mir fallen weiters also irgendwie keine anderen Verben außerhalb des "Antunsspektrums" ein. 
Und wie natürlich klingend findet ihr "Ich schlage dich ins Gesicht."? Ich kannte es ehrlich gesagt bevor ich das vorgestern gelesen habe nur mit "dir".

Vielleicht ist es aber auch so "einfach" so eine Struktur zu benutzen, weil die transitive Natur des Verbs so eindeutig ist und Auslassungen ganz normal mitverstanden werden. Wie thf schon meint, könnte man "Ich schlage dir eine ins Gesicht." mitverstehen. Man könnte auch "Ich schlage dir meine Faust ins Gesicht." mitverstehen.

Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass im Deutschen der Dativ verwendet werden kann, um inalienablen Besitz (solchen, den man mir nicht wegnehmen kann) von alienablem (der den Besitzer wechseln kann) zu unterscheiden, weiß aber nicht mehr, woher ich das habe. Beispiele dafür wären:

Er streicht mein Haus. 

vs.

Er färbt mir dir Haare.

"*Er färbt meine Haare." dagegen klingt schief, ebenso wie "*Er streicht mir das Haus."

Das Haus ist ein alienabler Besitz, den man mir wegnehmen kann, und wird deswegen "normal" mit Possessivpronomen konstruiert, die Haare sind inalienabel und stehen mit der Dativ-Konstruktion. Das funktioniert klassischerweise mit Körperteilen, von daher würde ich "Ich schlage dir ins Gesicht" vielleicht auch in die Richtung einordnen. 
Der tatsächliche Kontrast bestünde dann zum ungebräuchlichen "*Ich schlage in dein Gesicht." Yaouoays Abgrenzung zu "Ich schlage dich ins Gesicht" bliebe davon natürlich unberührt.

(15.01.2022, 13:44:45)Jon.Schnee schrieb: "*Er färbt meine Haare." dagegen klingt schief, ebenso wie "*Er streicht mir das Haus."

Ich finde deine Überlegungen zu alienablem/inalienablem Besitz sehr gut. Allerdings muss ich sagen, dass ich diese beiden Beispiele nicht schief finde. Insbesondere "Er streicht mir das Haus" finde ich mindestens genauso, wenn nicht sogar normaler als die andere Variante. Ist evtl. eine regiolektale Sache (rheinischer Regiolekt).

Hmm, sehr interessanter Punkt. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich die anderen Beispiele auch ganz normal finde. "Heute färbt Christian Ihre Haare." fände ich ganz normal im Kontext. Auch bei "Hast du schon wieder deine Haare gefärbt?". Auch "Nachdem ich meinen Fuß verstaucht habe, streicht Christian mir netterweise das Haus." passt ganz gut.
Was daran liegt, dass Körperteile wie Elternteile monovalente Nomen sind und einen overten Besitzer brauchen, also wohl das deutsche Pendant zu Alienabilität. Bei "Ich färbe deine Haare." wäre diese vakante Valenzstelle ja bereits gefüllt durch "dein" und würde kein "dir" mehr brauchen, was das anlangt.

Aber das eine muss ja nicht das andere ausschließen. Der Punkt ist auf jeden Fall interessant, als vielleicht hintergründige Motivation dazu.

Das hieße, man müsste irgendwie erklären wie man aus diesen drei zugrundeliegenden Lesarten, diejenige mit dem "Dativ" kriegt, die syntaktisch aber auch die Valenzstelle des Nomens "Gesicht" füllen kann. 
"Ich schlage dich."
"Ich schlage dein Gesicht."
"Ich schlage dich ins Gesicht."

> "Ich schlage dir ins Gesicht."

Ich glaube bei diesem Beispiel ist die leere Valenzstelle, also die Alienabilität, aber zu vernachlässigen, weil es wahrscheinlich mitverstanden wird. "Voll ins Gesicht!" ist zwar umgangssprachlich, kommt aber auch ohne Besitzer aus. Ansonsten wirds mühselig "Ins Gesicht schlage ich dir!" so aufzudröseln in einem Baum, dass "dir" die Personalunion aus Komplement und Valenzstelle des Nomens füllt.

Es wäre darüber hinaus interessant, was zuerst da war: dich oder dir. Vielleicht ist "dich" eine Überkompensation, dass jemand dachte, hier fehlt ein Akkusativ, und so wäre es richtiger. Oder "dir" entstand durch einen Argumentenverschiebungsprozess, der bei diesem Miniset aus Antunsverben die Undergoerposition so herausstellen lassen will, dass es verzeihlich ist, kein Akkusativobjekt zu haben. Es ist ja nicht so, dass wir nicht "Ich helfe dir." hätten. 

Am besten wäre es daher, wenn man noch weitere Beispiele findet, die wirklich kein Akkusativobjekt haben (aber zum Beispiel eine Präpositionalphrase wie hier), die aber keine Antunsverben sind. Auch bei "Ich färbe dir die Haare." ist es wieder ein Benefaktiv, "die Haare" bleibt das overte, transitive Direktobjekt. 

Vielleicht überdenke ich das ganze auch komplett, weil es mir im Kopf rumschwirrt, und es ist einfach eben so, basta.

(14.01.2022, 17:40:59)Kevin schrieb: Es gibt ja auch Benefaktivdativ etc., aber wieso wird er gerade hier gebraucht? 

Hinweise darauf sollten z.B. u.a. in Diewald, Gabriele. "Non-central usages of datives." STUF-Language Typology and Universals 69.1 (2016): 1-14. zu finden sein. Hier wird z.B. auch der Unterschied zwischen Fall mir nicht von der Leiter und Fall nicht von der Leiter erklärt. Vielleicht deckt das das ab?

Ha, eben über diesen Beitrag gestolpert. Und nu nachdem ich mich viel mit Standard Average European beschäftigt habe, weiß ich doch halbwegs die Antwort. Es ist ein typisches SAE-Feature einen externen Possessor in den Dativ zu tun. "Ich schüttle ihm die Hand. Die Mutter wusch dem Kind die Haare. Der Vogel schiss dem Mann auf den Hut." Auch viele andere europäische Sprachen haben das, Englisch kann das nicht, der Possessor muss in die Nominalphrase. "The mother washed the child's hair." In den skandinavischen Sprachen wird oft eine Lokativphrase gebildet: Någon bröt armen på honom." Jemand brach ihm den Arm. Baskisch, Russisch, Maltesisch und so können auch den Posessor extern in den Dativ tun.

In meiner Altgriechisch-Grammatik steht etwas zur Genese dieser Konstruktion - anders als man denkt, herrschte da nicht die Funktion des Akkusativs als direktes Ziel des Verbalvorgangs vor, sondern zumindest ein Objekt erfüllt die Funktion eines inneren Akkusativobjekts.
Wenn noch Interesse an der Fragestellung besteht, referiere ich aus dem Bornemann-Risch.

Auf Wunsch des Administrators dann die Erläuterung aus dem Bornemann-Risch (§ 168, Anm. 2):
Bei der vom Threadersteller genannten Verbalphrase ("jemandem wohin schlagen") kann es sich gemäß der ursprünglichen Syntax um zwei affizierte Akkusativobjekte handeln; der Satz besteht aus einem "ersten Objekt, einem Ganzen", zu dem "erläuternd ein Teil als zweites Objekt tritt". Anschließend werden Beispiele genannt, hier nur die Übersetzung ins Deutsche als infinite Phrase: "den traf er, (nämlich) die Schläfe"; es folgt der Hinweis, dass im Dt. mit "dessen Schläfe traf er" oder "den traf er an der Schläfe" übersetzt würde. Weiteres Beispiel: "jemanden an der Weiche treffen".
Sicherlich noch informativ und Wichtung für Entstehung und Entwicklung der abschließende Hinweis: "[D]ie hier noch echten Akkusativobjekte bilden eine Vorstufe zum Akkusativ der Beziehung (unten § 172)."

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PS: Ich muss meinen ersten Post korrigieren: Wenn man die Satzglieder unter die Kategorien eines äußeren und inneren Objektes einsortiert, denkt man ja eher, dass zumindest ein Glied ein inneres Objekt ist ("treffen hinsichtlich/[Ort/Stelle]"). Zu meinen/zum allgemeinen(?) Erstaunen handelt es sich aber wohl ursprünglich um zwei äußere Akkusativobjekte.
Inwiefern es sich um ein griechisches Spezifikum handelt oder ob das indogermanisch üblich ist, weiß ich nicht, ich bin kein Sprachwissenschaftler, mit diachronen Phänomenen habe ich mich nie beschäftigt.

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PPS: oder eben dass das eine Glied die Besitzerangabe ist (Genitivattribut) bzw. als Dat.(in-)comm der Adressat, zu wessen (Un-)gunsten etwas geschieht. So würden wir ja auch im Deutschen konstruieren.

Also die ursprüngliche griechische Konstruktion erscheint gänzlich unlogisch.