Hallo Maumimumelmö und herzlich willkommen im Forum!
Die Frage, die du stellst, beschäftigt mich seit Jahren und ich hatte gehofft, es antwortet vielleicht jemand, der sich wirklich gut damit auskennt. Ich antworte jetzt einfach mal und gebe dir meine Überlegungen und Fundstücke dazu; da ich allerdings kein studierter Indogermanist, sondern nur ein Latinist mit einem Faible für Indogermanistik bin, würde ich vorsichtshalber einen Disclaimer voranstellen, da mir als Nicht-studiertem ein Stück weit der Überblick fehlt, um zu beurteilen, was am ehesten der wissenschaftliche Konsens ist.
Ich gebe dir unten zwei Bücher mit Seitenzahlen mit, die ich zu diesem Thema zumindest interessant fand und die, soweit ich beurteilen kann, auch zumindest einen Konsens ihrer Zeit abbilden. Außerdem verlinke ich ein Youtube-Video von einem Kanal, der mir bisher immer seriös erschien. Die Videobeschreibung verlinkt einige weitere Papers zu diesem Thema.
Die kurze Antwort auf die Frage, wie der Prozess von Abstrakta zu Feminina vonstattenging, lautet, soweit ich sehe: Wir wissen es nicht. Es gibt einige Hypothesen, aber so richtig einig scheint sich die Forschung bei dem Thema nicht zu sein. Einige Beispiele:
- Das Wort für „Frau“ *gwenh2 endete auf h2, das daraufhin mit weiblichen Lebewesen generell assoziiert und zum Femininsuffix generalisiert wurde (Clackson S. 107f.). Es erscheint jedoch (sowohl Clackson als auch mir) eher unplausibel, dass ein einzelnes Wort so einflussreich sein sollte.
- Es gab zwei ähnliche, jedoch nicht identisch Suffixe *-ih2 und *-(e)h2, ersteres zeichnete weibliche Lebewesen (und Abstrakta?), letzteres Kollektiva. Durch Sprachwandel fielen beide Suffixe zusammen und die gemeinsame Herkunft von Femininum und Kollektiv ist letztlich eine Illusion (so in https://doi.org/10.1163/9789004264953_006). Das erscheint mir die Erklärung, die am wenigsten Kopfschmerzen bereitet, jedoch auch die langweiligste. Außerdem setzt sie die Verbindung von weiblichen Lebewesen und Abstrakta u.U. bereits voraus.
- Das Suffix *-(e)h2, das (unbelebte) Abstrakta bildete, führte dazu, dass diese mit der Zeit als drittes Genus wahrgenommen wurden (zu diesem Prozess s. meine Überlegung im Anschluss). Aus Belebt vs. unbelebt wurde also Belebt vs. Abstrakt vs. Unbelebt. Damit existierte ein System mit drei Genera. Die Hypothese besagt nun weiter, dass nach der grundsätzlichen Unterscheidung nach Belebtheit bei der belebten Klasse das natürliche Geschlecht (Sexus) die nächstbedeutendste Unterscheidung in den Köpfen der Sprecher war – wichtiger als die Unterscheidung Abstrakt vs. andere unbelebte Substantive. Man begann daher mit der Zeit, zusätzlich zu den eigentlichen Abstrakta auch Substantive für weibliche Lebewesen in die Abstrakta-Klasse hinüberzuschieben, bis diese als Femininum wahrgenommen wurde (dazu mehr im Video). Diese Hypothese läuft also mehr oder weniger darauf hinaus, dass es keine Rolle gespielt hätte, woher das dritte Genus kommt: Sobald in einem System, das Unbelebtes bereits von allem anderen separiert, ein drittes Genus auftaucht, woher auch immer, haben Menschen die natürliche Tendenz, die beiden nicht-unbelebten Genera für Maskulinum und Femininum zu verwenden. Wie plausibel ist das? Es klingt für mich plausibel, aber genauer kann ich das schwerlich beurteilen. Vielleicht ist die Einteilung der Welt in männlich, weiblich, sächlich für mich nur deshalb eingängig, weil meine Muttersprache so funktioniert.
Ein Punkt, der je nach deiner fachlichen Spezialisierung für dich vielleicht trivial ist, für mich aber ein gedanklicher Durchbruch war, ist auch der folgende: Die Sprecher des Indogermanischen haben mit einiger Sicherheit weniger über ihre Sprache nachgedacht als wir: Es ist ziemlich unklar, ob sie eine Benennung für die Genera ihrer Sprache hatten und ob sie sich bewusst Gedanken darüber gemacht haben, welches Wort zu welchem Genus gehörte. Grundsätzlich versuchen Sprecher einer Sprache, beim Sprechen maximale Eindeutigkeit herzustellen, solange dies nicht auf Kosten der Bequemlichkeit geht. Eine Möglichkeit, um Eindeutigkeit herzustellen, ist Kongruenz. Je mehr Kategorien in diesem Bereich, also beispielsweise je mehr Genera, desto mehr Eindeutigkeit. Bei einer großen Anzahl an Genera kommt dann irgendwann die Bequemlichkeit ins Spiel, aber solange wir von zwei oder drei Genera reden, können wir die vernachlässigen. Jetzt stell dir vor, du sprichst eine Sprache mit zwei Genera. Für den linguistisch wenig gebildeten Indogermanen heißt das vor allem, es gibt manche Substantive mit Eigenschaft A und andere mit Eigenschaft B und beide vererben jeweils ihre Eigenschaft an Adjektive und Pronomina. „Der Baum“ hat die Eigenschaft, dass er „der“ ist und wenn ich Besitz ausdrücke, ein -s bekommt („des Baumes“), „die Pflanze“ ist „die“ und bekommt kein -s; wenn ich beiden eine Eigenschaft beigebe („groß“), lautet die je nach Substantiv unterschiedlich („großer“ vs. „große“).
Nehmen wir jetzt mal weiter an, es gibt eine recht große Gruppe an Substantiven mit einer Gemeinsamkeit X, meinetwegen einem bestimmten Wortausgang. Diese Eigenschaft X vererbt sich nicht an Adjektive und Pronomina, ist also kein Genus, aber es gibt eben recht viele davon, sodass man ihnen recht häufig begegnet. Liegt es nicht irgendwie nahe, dass die Sprecher der Sprache irgendwann anfangen, diese Eigenschaft doch an Adjektive und Pronomina weitergeben, einfach um klarzumachen, dass dieses Adjektiv sich eben auf das Substantiv mit Eigenschaft X bezieht und nicht auf das zweite Substantiv im Satz, das Eigenschaft X nicht hat? Mit der Zeit prägt sich das immer weiter aus, bis X schließlich grundsätzlich immer an Adjektive und Pronomina weitergegeben wird. Et voilà, wir haben technisch gesprochen ein drittes Genus. Denn der Begriff „Genus“ ist ja im Grunde nichts weiter als eine Bezeichnung für eine Eigenschaft des Substantives, die sich in irgendeiner Form auf Adjektive und Pronomina (und vielleicht noch mehr) auswirkt.
Damit wird vielleicht zumindest einleuchtender, dass, wenn eine recht große Gruppe von Substantiven existierte, die auf *-h2 endete, diese Endung irgendwann ein eigenes Genus markierte und auch z.B. an Adjektive angehängt wurde, um grammatische Bezüge zu klären. Wenn diese große Gruppe von Wörtern jedoch wiederum Abstrakta waren und nicht zufällig Substantive für weibliche Lebewesen, erklärt es immer noch nicht, warum das Ganze schließlich als Femininum endete. Ich befürchte, dieser Punkt benötigt vielleicht einfach noch ein bisschen Forschung – wie so oft scheint hier zu gelten, dass die interessantesten Fragen in der Wissenschaft oft die sind, auf die selbst die Experten noch keine Antwort haben.
Ich hoffe, du findest vielleicht das ein oder andere Nützliche an meiner Erklärung; mehr kann ich derzeit leider nicht liefern, denn wie gesagt beschäftigt mich diese Frage auch schon eine Weile. Wenn jemand mit mehr Ahnung das hier liest, würde ich mich selbst ebenfalls über weitere Auskünfte freuen. Falls ich über weitere interessante Ansätze stoße, teile ich sie auch gerne.
Viele Grüße
Alexander
- https://youtu.be/m6zBEPCR5hM
- Matthias Fritz/Michael Meier-Brügger, Indogermanische Sprachwissenschaft, 10. Auflage, Berlin/Boston 2021 (ISBN 978-3-11-059832-2, e-ISBN (PDF) 978-3-11-066176-7, e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066368-6), S. 195ff., 205f., 288ff.
- James Clackson, Indo-European Linguistics. An Introduction, Cambridge 2007 (ISBN 978-0-521-65313-8 hardback, ISBN 978-0-521-65367-1 paperback), S. 104-113.