Frage bezüglich des Satzes: "Es tut ihr leid"

Hallo allerseits,


bei uns im Freundeskreis gab es eine Frage bezüglich der Korrektheit eines Satzes, vor allem dessen Semantik.

Beispiel:
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Ein Mann sagt, "Alle Frauen im Büro sind hässlich! ". Anna ist eine von diesen Frauen. Es tut ihr leid.
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Dabei tut es Anna leid, im Sinne von sie leidet darunter. Sie wurde gekränkt. Nun waren einige der Meinung, das würde nicht korrekt sein, da man "leid" nicht in diesem Kontext mit dieser Bedeutung verwenden kann. Dem Satz nach kann Anna nur etwas bereuen.

Jedoch konnten diese das nicht begründen. Als Gegenargument wurde gebracht, dass man doch "weh" auch nutzen kann ( Es tut ihr weh).
Es also auf den Eigenenschmerz abzielt. Also müsse das für "leid" auch gelten, da beide eine ähnliche bedeutung haben und daher auch ähnlich verwendet werden können muss.


Könnt ihr uns da weiterhelfen? Ist der Satz so korrekt? Wenn nicht, was stimmt daran nicht? Bitten um eine ausführliche Erklärung!


Ich bedanke mich für jede Antwort!

An sich ist der Satz ok, er ist nur mehrdeutig, wie du schon geschildert hast. Die Bedeutung "wehtun" ist hochsprachlich und leicht veraltet, insofern erwartet man das vielleicht nicht unbedingt im lockeren Gespräch. 
Siehe auch: 

• https://www.duden.de/rechtschreibung/Leid
  
• https://de.wiktionary.org/wiki/Leid
  

Ich bin kein Germanist, aber "leidtun" ist mir im modernen Hochdeutsch nur in der Bedeutung "etwas bedauern" usw. bekannt. "leidtun" im Sinne von "Leid antun/zufügen" kenne ich nur aus älterer Literatur und nur mit unbestimmtem Artikel ("Erlkönig hat mir ein Leids getan!"). Das bedeutet aber nicht, dass das eine korrekt ist oder nicht. Mit der Frage nach der sprachlichen Korrektheit im Sinne irgendeiner Norm belasten sich Linguisten ohnehin nicht so häufig ;)

Nachfolgend einige Anmerkungen in loser Reihenfolge:

* "leidtun" und "wehtun" sind für sich stehende Verben mit eigener Bedeutung, die sich nicht unmittelbar aus der Bedeutung ihrer Bestandteile ergibt. Das gilt insbesondere für "leidtun". Die beiden Verben auf Grundlage der isolierten Bedeutung von "leid" und "weh" unmittelbar zu vergleichen, ist meiner Meinung nach ungünstig. Diachron muss man das natürlich mit einbeziehen.

* "wehtun" ist ein relativ normales transitives Verb.

"Kim tut Alex weh"
-> "Kim fügt Alex physische/psychische Schmerzen zu." (Gängige Lesart)

"Kim" hat hier die semantische Rolle eines Agens (/Actor), das eine Handlung an "Alex" (Patient/Undergoer) durchführt. Die Kontrolle über die Handlung liegt vollständig bei "Kim" und ist von "Alex" nicht beeinflussbar.

* "leidtun" ist meiner Einschätzung nach ein sog. Object Experiencer Verb.

"Kim tut Alex leid."
-> "Kim wird von Alex bedauert" (gängige Lesart)
-> "Kim verursacht bei Alex Bedauern" (Paraphrase)
-> ? "Kim verursacht bei Alex Leid" (m.M.n. unübliche Lesart)

"Kim" hat hier die semantische Rolle eines Stimulus, "Alex" die eines Experiencers. "Kim" ist der Auslöser von Alex' Bedauern, hat aber keine aktive Kontrolle darüber. Auch "Alex" hat keine Kontrolle über die Handlung.

* Bezogen auf dein Ausgangsbeispiel wäre Satz 1 der Stimulus, der in Satz 3 durch "Es" vertreten wird.

* "leidtun" ist Teil eines größeren Wortfelds und in seiner eigenen Bedeutung relativ spezialisiert. Es gibt "Leid" und "Leiden" als Substantiv (auch als Teil von Komposita), "leid" als Adjektiv, die Verben "leiden", "erleiden" usw. In Satz 3 könnte man zum Beispiel sagen "Sie leidet darunter" um die gewünschte Bedeutung zu erhalten.
* wehtun hat weniger "lexikalische Konkurrenz" und daher eine breitere Bedeutung. Meist taucht "Weh" als Teil von Komposita wie "Heimweh", "Bauchweh" usw. auf; oder (meist im Plural) als "Wehen"). Auch als Adjektiv "weh" sieht man es manchmal.
* Mir ist der Unterschied zwischen Leid und Weh unklar. Vielleicht ist "Weh" eher akut und "Leid" dauerhafter.

Also erst mal. Was man nicht sagen kann, entscheidet nicht eine Person. Das wird, wenn überhaupt, von der Sprachgemeinschaft festgelegt. Eigentlich entscheidet die Sprachgemeinschaft nämlich eher, was man sagen *kann*. Neue Ausdrücke und Sprachwandelphänomene entstehen dadurch, dass viele sie benutzen. Beispiele dafür sind weil-V2-Sätze und der Übergang schwacher Nicht-Feminina zur Klasse der gemischten und starken (vgl. Thieroff 2003, Linguistik online 16, 4/03). Thieroff stellt fest, dass Sprecher dazu neigen, "Mensch" im Akkusativ und Dativ nicht mit einem Suffix zu kennzeichnen. "dem Mensch" vs "dem Menschen". Thieroff verweist auf die "normalen" Substantive des Deutschen, die das auch nicht tun. Der Sprecher flektiert den Dativ von "Mensch" so, wie er es bei den meisten anderen Nicht-Feminina auch tun würde. Und wenn viele Sprecher das machen, dann etabliert sich das. Niemandem steht es zu, dort normativ einzugreifen und die Sprachgemeinschaft lässt sich auch nicht aufhalten.
Zu sagen "leidtun"/Leid tun" kann nur eine Bedeutung haben, ist normativ. So funktioniert Sprache aber nicht. Was man sagen kann, ist, dass die Bedeutung "sie leidet darunter" für "leidtun" von einer überwältigen Mehrheit der Sprachgemeinschaft als nicht akzeptabel gewertet wird. Diese Semantik des Ausdrucks ist nicht etabliert.

Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, "leidtun" zu analysieren.
"tun" als Vollverb, "Leid" als Objekt.
"tun" als Komponente des Kompositums "leidtun".
Da die Bedeutung von "leidtun" fest im Sprachgebrauch verankert ist, ist es unwahrscheinlich, dass die andere Bedeutung in naher Zukunft ein Ausdruck wird, der von der Sprachgemeinschaft verwendet wird.
"Die Beleidigung tut ihr Leid" mit "Leid" als Objekt dürfte bessere Chancen haben, da sie orthografisch verschieden ist und im Schriftsystem eine Koexistenz ermöglichen würde. Aber auch hier sollte die Chance nicht groß sein, die Semantik der Ausdrücke unterscheidet sich gravierend und nur eine davon ist etabliert. In 500 Jahren könnte sich das aber geändert haben.

Kurz und knapp: "leidtun" als "sie leidet darunter" gibt es nicht. Die Zahl der Verwender dieser Semantik dürfte eine sehr kleine sein. Es müsste einen semantischen Wandel innerhalb der Sprachgemeinschaft geben, um diese Interpretation des Ausdrucks zu etablieren. Dass das zeitnah passiert, ist höchst unwahrscheinlich. Möglich ist es trotzdem.

Willkommen im Forum, Mandy Watson, und vielen Dank für die differenzierte Betrachtung! (:

Mandy Watson schrieb:"leidtun" als "sie leidet darunter" gibt es nicht. Die Zahl der Verwender dieser Semantik dürfte eine sehr kleine sein.

Der Duden schaut dem Volk aufs Maul, dokumentiert und rastert also die Sprachgewohnheiten der Sprecher. Der Grund, aus dem "es tut ihr leid" nicht "es verletzt sie" bedeutet, ist nicht, dass der Duden oder der Deutsche Sprachrat das so entschieden haben, sondern dass der Begriff von (fast) niemandem so verwendet wird und verstanden würde.


Deshalb beschäftigen Linguisten sich auch weniger

thf schrieb:[m]it der Frage nach der sprachlichen Korrektheit im Sinne irgendeiner Norm […]

wie es thf so schön ausdrückte.

Mandy Watson schrieb:Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, "leidtun" zu analysieren.
"tun" als Vollverb, "Leid" als Objekt.
"tun" als Komponente des Kompositums "leidtun".

Allerdings ist "leidtun" diachron betrachtet kein Kompositum aus "Leid" und "tun". Beim ersten Glied handelt es sich um das Adjektiv "leid" (s. hier). Der Satz "Es tut ihr leid" ist also nicht als eine Verschleifung von "Es tut ihr ein Leid" zu betrachten.

janwo schrieb:An sich ist der Satz ok, er ist nur mehrdeutig, wie du schon geschildert hast. Die Bedeutung "wehtun" ist hochsprachlich und leicht veraltet, insofern erwartet man das vielleicht nicht unbedingt im lockeren Gespräch.

Die genannten Quellen belegen aber nur den Ausdruck "ein Leid[s] tun", auf den auch thf sich bezogen hat.
Wie oben geschildert, hat das etymologisch wenig mit dem Verb "leidtun" zu tun.


LG~Y

Danke Mandy für die super Zusammenfassung!

Ich sehe das genau wie du: Den Ausdruck "leidtun" im Sinne von "unter etwas leiden" gibt es - stand jetzt - so nicht, bzw wird nicht von einer großen Zahl innerhalb der Sprachgemeinschaft verwendet.

Dass es zeitnah einen semantischen Wandel geben wird, wage ich auch zu bezweifeln, da die Bedeutung "leidtun" zu fest im täglichen Gebrauch unserer Sprache montiert ist.

1. Hi @Yaouoay

2. "Allerdings ist "leidtun" diachron betrachtet kein Kompositum aus "Leid" und "tun"."
Es sollte eine alternative syntaktische Analyse des Ausdrucks gezeigt werden, Der Verweis auf <mhd. leit> ist wichtig, danke dafür. Die Existenz des Substantivs "Leid" kann aber nicht abgestritten werden, ebenso wenig die semantische Verwandschaft mit <mhd. leit> und <nhd. leid>. Das Verb <tun> beschreibt das Ausführen einer Handlung (machen, verrichten, ausführen). <Leid machen> ist eine Semantik, die es auch schon als Ausdruck gibt <Leid zufügen>. Die Form <Leid tun> ist demnach nicht abwegig.

Das sah wohl auch Goethe so:
"Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!" (Erlkönig, Goethe 1782

Die Vermutung liegt nah, dass die Freunde des Fragestellers, die den Ausdruck mit <sie leidet darunter> interpretiert haben, von dieser Oberflächenstruktur ausgehen. 

<Leid tun> mit dem Verweis auf <leit> zu "verbieten", bzw. die zusammen auftretenden Ausdrücke <leid> und <tun> wegen <leit> auf nur eine Betrachtungsweise zu reduzieren, ist regressiv. Sprachwandel findet statt, indem etwas verändert wird. Und das wäre aufgrund der semantischen Nähe von <leit> und <Leid> und der Semantik des Verbs <tun> auch tragbar. Hervorheben möchte ich außerdem, dass <Leid> als Objekt von <tun> die anfangs erwähnte Interpretation <es schmerzt sie> analysiert. Hier wird nicht dafür plädiert, die Orthografie von <leidtun> zu verändern. Das sind zwei unterschiedliche Bedeutungen. Und darum geht es bei der Ausgangsfrage.

Hallo, Mandy Watson! (:

Zitat:Die Existenz des Substantivs "Leid" kann aber nicht abgestritten werden, ebenso wenig die semantische Verwandschaft mit <mhd. leit> und <nhd. leid>. Das Verb <tun> beschreibt das Ausführen einer Handlung (machen, verrichten, ausführen). <Leid machen> ist eine Semantik, die es auch schon als Ausdruck gibt <Leid zufügen>. Die Form <Leid tun> ist demnach nicht abwegig.

Zitat:Die Vermutung liegt nah, dass die Freunde des Fragestellers, die den Ausdruck mit <sie leidet darunter> interpretiert haben, von dieser Oberflächenstruktur ausgehen. 

Eine Entstehung von "Leid tun" könnte man aus synchroner Sicht als syntaktisch valide Konstruktion betrachten (à la "ein Leids tun"), diachron würde ich aber von einer volksetymologischen Adaption des Lexems "leidtun" ausgehen, da Goethes "ein Leids tun" kaum mehr im modernen Sprachgebrauch verwendet wird. Somit würde es sich um eine Bedeutungsverschiebung des Lexems "leidtun" von "bedauern" hin zu "schmerzen" handeln (und somit um eine Syntax-/Orthographie-Verschiebung von <leidtun> als trennbares Verb zu <Leid tun> als Phrase mit Dativvalenz).

Zitat:Es sollte eine alternative syntaktische Analyse des Ausdrucks gezeigt werden

Ich dachte mir bereits, dass Du syntaktisch, nicht diachron analysiert hast: Ich wollte nur Missverständnissen vorbeugen. (:


LG~Y

Meint Ihr beide vielleicht "synchron", nicht "syntaktisch?

(10.05.2020, 13:07:39)janwo schrieb: Meint Ihr beide vielleicht "synchron", nicht "syntaktisch?

Jaah, sie hat im Prinzip auf synchroner Ebene <leidtun> syntaktisch als <Leid tun> analysiert; war vielleicht nicht so präzise ausgedrückt. (;

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