Exbundespräsident Christian Wulff meinte am 22.6. 2019 in einer Rede vor Kirchentagspublikum, wer sich der "Vielfalt" verschließe, müsse sich den Vorwurf der "Einfalt" gefallen lassen, genauer und wörtlich: "Ich will lieber Vielfalt und nicht ihr Gegenteil, die Einfalt." Ein Autor der Süddeutsche Zeitung wollte diesen Satz in ihrem "Streiflicht" auf der ersten Seite - die Autoren des "Streiflichtes" zeichnen nicht namentlich - zu einer kritischen Glosse nützen. Und so konnte man am Montag (9.7.19) folgendes lesen:
Zitat:Christian Wulff wollte auf dem Evangelischen Kirchentag mit einer besonders gewitzten sprachlichen Pointe Sympathie und Bewunderung auf sich ziehen. Der frühere Bundespräsident erklärte seine Parteinahme für gesellschaftliche Vielfalt mit dem Verweis auf das angebliche Gegenteil von Vielfalt, die Einfalt. Sicher gewann Christian Wulff für seinen jetzt schon mit dem Zeug zum Zitat mit Langzeitwirkung ausgestatteten Satz die Herzen der Kirchentagsbesucher. Die Herzen der Linguisten werden womöglich eher kurz ausgesetzt haben, denn grammatikalisch gesehen ist die Annahme, Einfalt sei das Gegenteil von Vielfalt, kompletter Unsinn. Das Gegenteil von "Vielfalt" wäre vielmehr "Wenigfalt", aber diese eigentlich schöne, fast ein bisschen wehmütige Vokabel stellt die deutsche Sprache leider nicht bereit. Ein als kleines sprachliches Feuerwerk vorgesehenes Raffinement verpufft in dem Augenblick, da es an die Luft des Kirchentages tritt und bleibt in seiner traurigen Einfalt als misslungener Versuch, geistreich zu sein, im Gedächtnis der Menschheit.
Was ist das Gegenteil von polygam? Der unvergessene Heinz Erhardt wusste die Antwort: monoton. Das ist natürlich weder grammatikalisch noch semantisch ganz korrekt, aber es ist auf einer vertrackten moralischen Ebene stimmig - und zwar auf jener Ebene, auf welcher die höhere Heiterkeit zu Hause ist. Der Dichter setzt die Pointe im Wissen um ihre Angreifbarkeit in die Welt, und das macht den souveränen Meister aus. Aber, um noch einmal auf Wulffs Vielfalt zurückzukommen: Sein Satz war immerhin gut gemeint. Jetzt sagen wieder die ganz Schlauen, gut gemeint sei das Gegenteil von gut. Und das stimmt nämlich auch nicht, denn das Gegenteil von gut ist und bleibt: schlecht.
Streiflicht SZ 09.07. 2019
Zum SZ-“Streiflicht“ vom 9.7. 2019 :
Da das Streiflicht vom 9.7. 2019 vielleicht nicht - nein sicher nicht – ein Streiflicht ist, das zeitig genug fertig gestellt von linguistikaffinen Kollegen gegen zu lesen war, sei hier Linguistisch-Problematisches der Glosse gestreift.
Der Gegenbegriff zu "viel" ist das
konträre "wenig".Dieses antonyme Wort-Paar erlaubt uns die Aussage, dass von zwei Aussagen („Es gibt viele Linguisten... Es gibt wenige Linguisten, die das Streiflicht mit Vergnügen lesen“) beide falsch sein können: etwa wenn es „einige“ solcher linguistischen Leser gibt. Es ist aber auch kompatibel damit, dass nur eine seiner Aussagen falsch ist: etwa wenn viele Linguisten es wahrhaft mit Vergnügen lesen. Anders als der
konträre Gegensatz funktioniert der
kontradiktorische Gegensatz: In ihm gibt kein „Drittes“. Wenn eine seiner Aussagen falsch ist, so ist die andere zwingend richtig. Und ist eine seiner Aussagen richtig, so ist die andere zwingend falsch. Ein Drittes gibt es nicht („tertium non datur“).
Nun ist eine Aussage mit "genau einer" recht interessant, sie falsifiziert genaugenommen beide Aussagen, die mit "viel" und die mit "wenig". So ist denn auch gar nicht so verkehrt, mit der "Einfalt" auf die Gegensätzlichkeit von „Vielfalt“ hinzuweisen. Zumal es sich ja durchaus um ein Wortspiel handeln dürfte, das kürzlich bei frommem und intelligentem Publikum (muss kein Gegensatz sein) Beifall fand. Dass dabei das Lexem "Einfalt" nicht mehr als "fromme, naive Einfalt", sondern ad hoc im Kontext als "Engstirnigkeit in Sachen Diversität" zu lesen ist und damit kaum fehl am Platze, wenn es um die Befehdung von und Widerspruch gegen Diversität geht, wenn es um vereinfachende, simplifizierende Urteilsmuster geht, dürfte dem Streiflichtschreiber aufgegangen sein. Woraus lässt sich das schließen?
In seinem Versuch eines Schlussgags mit dem Begriff "Polygamie" (Vielehe) hat er wohl gespürt, dass es hier mit "Monogamie" (Einehe, eheähnliche Beziehung zu einem Partner) tatsächlich ein semantisches Mono-Pol zu bespielen gibt. Nun hätte er seine linguistische Kritik an Wulff revidieren müssen. Weil er dies aus Zeitnot oder anderen Gründen nicht wollte oder konnte, setzt der Texter lieber nicht den korrekten Gegenbegriff "Monogamie", sondern umspielt ihn mit dem Komiker-Scherz "Die Ehe ist monoton". Heinz Ehrhardt war als Komiker und Texter zweifellos gut.
Wie gut ist der Streiflichtschreiber?
Vielleicht funktioniert das ja sogar mit seiner Schreibe, vielleicht ist das nicht zwingend als Ablenkungsmanöver zu verstehen. Vielleicht soll das heißen, lassen wir ihn in der Ichform sprechen:
Meine linguistisch unterfütterte Kritik an Wulff ist gar nicht so ernst gemeint, weil augenscheinlich zu wenig/unter gefüttert:
a) Ich habe "monogam" augenzwinkernd und mit Witz und Verstand für Dich, intelligenter Leser, mittels "monoton" in den Bezirk der Akustik und Ästhetik und der Langeweile transferiert,
b) Wulff hat den Begriff der "engstirnigen Einfalt" im Feld eines "getrübten Bewusstseins" belassen, aber gleichzeitig auch noch im soziologischen Feld von Identitär versus Diversität/ Multikulti untergebracht. Und so den Feind der Diversität als naiv bis dümmlich gekennzeichnet.
c) Also sind wir beide mit Witz vorgegangen und sind kommunikationstechnisch gegen jede Kritik aus dem Schneider.
Nun:
Letzteres (b) ist wohl tatsächlich Wulffs (erfolgreiche) Strategie.
Dass aber das (vielleicht angedachte) Doppelspiel des Streiflichtschreibers funktioniert, darf bezweifelt werden.
Beste Grüße
ww
p.s.
Übrigens gibt es da eine recht heitere Anekdote aus dem Leben eines Studienreferendars an einem Fürstenfeldbrucker Gymnasium aus grauer Vorzeit zu berichten. Leser älteren Datums kennen vielleicht noch den Gattungsbegriff "Schnurre"1) . Damals nun stand nur für Auserwählte ein Fotokopiergerät zur Verfügung. Der gemeine Lehrer fertigte Schriftstücke mittels einer abfärbenden Vorlage, der Matrize. In einem Umdruckverfahren, das „Hektographie“ genannt wurde - von altgriechisch ἑκατόν hekatón, deutsch ‚hundert‘: "Verhundertfachende Schreibung“ also.
Der Referendar war dem Direktor insofern ein Dorn im Auge, als der Jungspund an einem Matrizenapparat sehr viele Unterrichtsmaterialien für seine Schüler herstellte. Und dabei stank es dann im Vervielfältigungsraum mehr als gewöhnlich nach Terpentin. Und das Sekretariat hatte mächtig viel damit zu tun, die Lücken im Papiervorrat durch Bestellungen zu schließen.
Eines Tages, der Referendar war mitten im hektografisch-hektischen Kurbeln an der Maschine, trat der Direktor ins Zimmer, schüttelte langsam und missbilligend den Kopf, deutete auf die kurbelnden Hände und sagte:
"W.W., der Vielfältige."
Der Referendar, nicht maulfaul, deutete auf die messerscharfe Bügelfalte in des Direktors Hose und sagte ohne zu bedenken, was das für Wirkungen zeitigen könnte: "Herr X.X., der Einfältige". Von Stund an war der Referendar seines Lebens an dieser Schule nicht mehr froh und daher erleichtert, bald seine Stammschule in München aufsuchen zu können.
Dort erzählte er den aufmerkenden Schülern, wie er einst unbotmäßig und reflexhaft gegen einen Direktor aufgemuckt habe.
Und dass der Gegensatz zur "Vielehe" die "Einehe" sei, das hat ihm am 9. 7. 2019 indirekt das Streiflicht erzählt.
1) Typische Attribute von "Schnurre" sind etwa: "kurzweilig", "possierlich", "drollig".