Wer auch immer dort
Wer immer da
(Deixisformanten: Relativsatz, Verallgemeinerung, Abtönungspartikel, Ortsadverb, Zeitadverb, Raumvorstellungen)
(1) Ein Kontinent als Redner mit falschen Antworten
Vielleicht rhetorisch-linguistisch interessant: eine Passage aus der Regierungserklärung Angela Merkels vom 17.2.2016.
Den
Schutz maritimer Grenzen propagiert Angela Merkel am Ende ihrer Rede. Sie führt dabei als eine Art Negativbeispiel einen "Kontinent" ein, der "lediglich mit Abschottung kurz hinter der maritimen Grenze reagiert". Der engere Kontext macht deutlich, es geht - im Rahmen einer größeren Bestandsaufnahme - um die Diskussion der europäischen Behandlung von Flüchtlingen, ihre Situation, es geht um Verhaltensweisen und Maßnahmen bereits vor den Grenzen der Zielländer, also um den maritimen - sit venia verbo - Fluchtanbahnungsbereich. Nur den Bereich
kurz hinter den maritimen Grenzen zu beachten, das sei eine Fehleinstellung, so die Rednerin.
Der offizielle Website-Text (s. u.) (vermutlich auch die schriftliche Vorlage der Rede) wird in der mündlichen Rede - leicht verändert (siehe Video 23´ 30´´ und unten) - die Rednerin spricht hier relativ frei und nicht vom Blatt weg.
Zitat:Offizieller Text, schriftlich:
Ich glaube, es lohnt sich, diese Agenda fortzusetzen; denn, meine Damen und Herren, wir als Europäische Union müssen lernen, auch maritime Grenzen zu schützen.
Das ist schwieriger, als Landgrenzen zu schützen. Wenn wir das nicht lernen, wird uns das beim nächsten Mal bei Italien, dem ja Libyen gegenüber liegt, auch nicht gelingen.
Das heißt also: Ein Kontinent, der das nicht lernt, auch im Ausgleich und im Gespräch mit seinen Nachbarn – bei Libyen ist das zugegebenermaßen schwer, solange es dort keine Einheitsregierung gibt; deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran –,
der das nicht schafft, der nur mit Abschottung kurz hinter der maritimen Grenze reagiert und sagt: „Wer auch immer dort hinter dem Zaun sitzt, interessiert uns nicht“, kann nicht die europäische Antwort sein – jedenfalls nach meiner festen Überzeugung.
https://www.bundesregierung.de/Content/D...erung.html
Gesprochener Text:
Aber ein Kontinent, der das nicht schafft und der nur mit Abschottung kurz hinter der maritimen Grenze reagiert und sagt: „Wer immer da hinter dem Zaun sitzt, dem/der interessiert uns nicht“, das kann nicht die europäische Antwort sein – jedenfalls nach meiner festen Überzeugung nicht.
Angela Merkel, Regierungserklärung vom 17.2.2016, vgl Video 23´ 30´´
http://www.ardmediathek.de/tv/Bundestag-...d=33475168
(2) Prädikatisierungen
Kurz zu einer Teilpassage, dorthin, wo rhetorisch der "Kontinent" zum Redner gemacht wird ("Aber ein Kontinent ... der sagt:...").
Eine syntaktische Mehrdeutigkeit ist zu beobachten.
Die fiktive, imaginierte Kontinentrede ist laut Merkel a) nicht die "europäisch"-normgerechte Antwort.
Oder b): Die fiktive Kontinentrede und
die Einstellung ihres Sprechers und der Kontinent , das ist nicht die geeignete Antwort auf das Flüchtlingsproblem, ist keine geeignete Bewältigungsstrategie.
Bei a) und b) lässt sich eine Verschiebung beobachten, weg von dem Vergleichspunkt
richtige Rede .. missliche Rede hin zu dem Vergleichspunkt
falscher Antwortgeber ... richtiger Antwortgeber.
Kurz, einmal ist "Kontinent" Subjekt der Prädikatisierung "das ist nicht die europäische Antwort", dann wird die anzitierte, fiktive Antwort selbst das Subjekt dieser Prädikatisierung. Oder beides: Kontinent/Sprecher und Antwort wird als Subjekt gesetzt, grammatikalisch oszillierend, aber in diesem Mix über das Adjektiv "europäisch" und dessen Normgehalt doch "irgendwie" verständlich.
Auffallend, dass hier in dieser syntaktisch brüchigen Stelle eine
correctio durch Merkel vorliegt. Und dass der Text wohl dem Vorwurf der schulmeisterlichen Bevormundung
durch Merkel oder eines Alleingangs von Rednerin Merkel begegnet/begegnen soll, die hier darüber befindet, welche Antwort des Kontinents die richtige zu sein habe. Und das versucht sie mittels eines Text- und Rollenspieles, mittels Herbeizitieren von überindividuellen, "echten" und wahrhaft europagerecht agierenden Instanzen. So jedenfalls die implizite Gedankenführung, der Subtext. Gut möglich, dass die - sagen wir mal - unbedingte Vermeidung von Signalen einer dominant-besserwisserischen Position die syntaktische Unschärfe ins Kommunikationsspiel gebracht hat.
(3) Deixis-Schattierungen?
Weiter zu beobachten: Dort wo die kritisierte Perspektive kurz von Merkel eingenommen und formuliert ist, wird das schriftliche, verallgemeinernde "Wer auch immer" mündlich zu "Wer immer". Und das "dort hinter dem Zaun" wird zu "da hinter dem Zaun".
Aber ein Kontinent, der das nicht schafft und der nur mit Abschottung kurz hinter der maritimen Grenze reagiert und sagt:
"Wer auch immer dort hinter dem Zaun sitzt, der interessiert uns nicht" -
"Wer immer da hinter dem Zaun sitzt, dem der interessiert uns nicht".
Bloße Ko-Varianten in der Deixis?
Also Formulierungen einer befremdlichen kontinentalen Rollen-Perspektive und ihrer implizit zu engen Sehweise (formuliert mit
da, dort, hinter, kurz hinter) aus einer weitergehende Überschau beanspruchenden (Merkel-) Perspektive. Eine Staffelung von "Hinter"-Orientierungen mit einem kurzen Wechsel der Origo: "Abschottung kurz hinter der maritimen Grenze" - "Wer ... hinter dem Zaun sitzt"?
Sind die voneinander abweichenden Formulierungen in der schriftlichen Vorlage und in der Mündlichkeit allenfalls minimal in den Nuancen verschieden, ohne besonderen Aufschlusswert? Gibt es neben der Raumbehandlung andere aufschlussreiche Details (z.B. das angetippte "dem" und das korrigierende "der", die nachklappnde Negation in "jedenfalls nach meiner festen Überzeugung
nicht"?)