Wechsel des Subjekts in Haupt- und Nebensatz

Hallo an alle, die dies lesen!

Ich bin Sprachlaie, lese aber sehr viel und stoße dabei hin und wieder auf innere Widerstände in meinem Sprachgefühl.
In solchen Fällen frage ich dann oft andere, ob sie auch der Meinung sind, dass diese oder jene Formulierung falsch ist.
Im Grunde lege ich aber doch Wert darauf, dass mir jemand eine Antwort gibt, der sozusagen "vom Fach" ist oder sich zumindest viel mit Sprache beschäftigt.
So kam ich hier zu den Linguisten.

Meine heutige Frage:

In einem Buch las ich folgenden Satz:

Zitat:Die Eistrümmer sind zu klein, um sich daran festzuhalten.

Mein Sprachgefühl sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt.
Wenn ich den Satz genau betrachte, stelle ich fest, dass das Subjekt im HS ein anderes ist als im NS.

Subjekt im HS --> die Eistrümmer
Subjekt, auf das sich der NS bezieht --> unbekannt, beliebig, hier die Protagonistin, verborgen im Wort "sich", aber definitiv nicht "die Eistrümmer"
Das Subjekt wechselt zwischen den Satzteilen.

So sagt mir jetzt mein (vielleicht nicht stimmiges?) Sprachgefühl, dass ein ähnlicher Satz in folgendem Falle grammatikalisch richtig wäre:

"Die Eistrümmer waren noch zu groß, um sich in den nächsten Stunden aufzulösen."

In diesem Fall bezieht sich die "Tätigkeit", also die beiden Prädikate (sein und auflösen) ja auf dasselbe Subjekt (die Eistrümmer).

Müsste der zitierte Satz aus dem Buch nicht so formuliert werden:

Zitat:Die Eistrümmer sind zu klein, als dass man sich daran hätte festhalten können.

???

Stimmt mit meinem Sprachgefühl etwas nicht?
Oder liege ich damit richtig?

Danke für mögliche Antworten!
Lesen ist für mich purer Genuss, das Lernen am Text aber ebenso.

Ulrike

Hallo und willkommen in unserem Forum! :)
Als Sprachlaie denkst du trotzdem schön über Sprache nach, das gefällt mir.

Zu deiner Frage:
Ich würde es eher so sehen, dass der Infinitiv im erweiterten Infinitivsatz gar kein zugrunde liegendes Subjekt hat (oder haben kann), da es nicht flektiert ist sondern im Infinitiv steht. Das heißt, es muss auch nicht kongruieren mit dem Subjekt aus dem Hauptsatz. Zudem hast du ein "da", das auf das Subjekt im Hauptsatz referiert. Du siehst auch, dass in dem Satz "Die Eistrümmer sind zu klein, um sich an ihnen festzuhalten." das Subjekt aus dem ersten Satz genauso gut als Präpositionalobjekt im Nebensatz wieder auftreten kann. Die Grundstruktur des Satzes wäre "sich an etwas festhalten" und die fehlende Valenzstelle wird ausgefüllt mit den Eistrümmern > "sich an Eistrümmern festhalten". 
Das heißt auch, dass hier eine Ambivalenz entstehen kann: "Die Eistrümmer waren zu klein, um sich an den Gletschern festzuhalten". Hier können die Eistrümmer auch das unterliegende Subjekt sein. Das macht die Struktur eines infiniten (nicht flektierten) Verbes aus, dass es nicht nach einem Subjekt flektiert, sondern einfach nur subsummiert/angenommen wird, aus dem Kontext heraus.

Liebe Leserike, willkommen im Forum!

Der Duden 9 (Sprachliche Zweifelsfälle, 7. Auflage) führt an: 

"… Weiter unauffällig wird ein solcher Satz, wenn in der Infinitivgruppe ein Pronomen vorkommt, das sich auf das Subjekt des Hauptsatzes bezieht. Das Subjekt kommt dann nicht mehr als Handelnder infrage: Der Wasserfall war zu weit weg, um ihn zu besichtigen." (S. 921)

Das Subjekt des Hauptsatzes wird zum Objekt des Nebensatzes. Es handelt sich um die gleiche Konstruktion wie in "Die Eistrümmer sind zu klein, um sich daran festzuhalten."

Kevin schrieb:Ich würde es eher so sehen, dass der Infinitiv im erweiterten Infinitivsatz gar kein zugrunde liegendes Subjekt hat (oder haben kann), da es nicht flektiert ist sondern im Infinitiv steht. Das heißt, es muss auch nicht kongruieren mit dem Subjekt aus dem Hauptsatz.

Ich gebe Kevin recht: Infinitivgruppen haben kein Subjekt, darum muss das Agens (der/die/das Handelnde) aus dem Kontext erschlossen werden. Dieses muss, wenn kein Missverständnis möglich ist, nicht mit dem Subjekt des übergeordneten Satzes übereinstimmen.

Der Satz "Die Eistrümmer sind zu klein, um sich daran festzuhalten." ist also standardsprachlich, da klar ist, wer im Nebensatz handelt.

Als missverständlich führt der Duden z. B. an:
"Er wird gelobt, um ihn zu motivieren." (s. hier)

Hier ist ohne Kontext nicht eindeutig nachzuvollziehen, ob der Gelobte motiviert werden soll, oder ob z. B. der Vater durch das Lob an den Sohn motiviert wird.


Liebe Grüße
Yaouoay

(22.06.2020, 12:24:04)Leserike schrieb: Stimmt mit meinem Sprachgefühl etwas nicht?
Oder liege ich damit richtig?

Deine Frage ist interessant, ich würde sie nur nicht unter dem Gesichtspunkt der normativen Richtigkeit sehen, da die Richtigkeit sich m.M.n. linguistisch nicht beurteilen lässt. LinguistInnen befassen sich eher mit der wissenschaftlichen Beschreibung von Sprache. "falsch" und "richtig" sind (da für mich) keine sinnvoll anwendbaren Kategorien. 

Ich sehe es ähnlich wie Kevin und Yaouoay:

"jemanden/etwas festhalten" selbst ist ein transitives Verb mit zwei Argumenten, dem/der Fasthaltenden (Agens) und der/dem Festgehaltenen (Patiens). Die spezifische Funktion von 'sich' ist hier, die Koreferentialität dieser beiden Argumente herzustellen. Bei dem separaten Prädikat "sich an etwas festhalten" sind Agens und Patiens stets gleichgesetzt und besetzen eine Argumentstelle, die andere wird von einem zweiten (konzeptuell dritten) Argument gefüllt. Wichtig ist weiterhin, dass "festhalten" prototypisch eine Handlung ist, die von einem aktiv handelnden, belebten Agens ausgeführt wird, während das durch die PP versprachlichte Argument protytpisch eher als unbelebt konzeptualisiert wird.

Spannend an dem Beispielsatz "Die Eistrümmer sind zu klein, um sich daran festzuhalten" ist nun, dass es zwei aufzulösende Referenzen, "sich" und "daran", gibt, die die beiden Argumentstellen vertreten. "Die Eistrümmer" sind unbelebt, daher kommen sie als Agens nicht so gut infrage und rutschen auf die zweite Argumentstelle. Das führt zu einer unpersönlichen Konstruktion. Macht man aus den "Eistrümmern" nun ein "Kind"  ("Das Kind ist zu klein, um sich daran festzuhalten"), verschiebt sich die Lesart dahingehend, dass das Kind die erste Argumentstelle füllt, da es sich aufgrund seiner Belebtheit erstens gut als Agens aber zweitens weniger gut als Patiens für dieses Prädikat eignet. Dass sich an dem Kind festgehalten werden soll, erscheint möglich, aber unwahrscheinlich.

Die Lesart der Konstruktion wird meiner Meinung  nach also durch die semantische Beschaffenheit der Argumente gesteuert.

Danke, Ihr drei!
Das sind ja fundierte Antworten!
Mit denen ich mich jetzt nochmal ganz intensiv befassen muss.
Endlich mal etwas mit Hand und Fuß.
Man ist ja nie zu alt, um noch etwas dazuzulernen.

Zu Beginn meines Studiums hatte ich das Fach Deutsch (Päd.) belegt,
habe aber dann gewechselt, weil mir etwas anderes noch attraktiver erschien.

Und nun ... als Seniorin will ich es dann doch hier und da genau wissen.

Hier werde ich mich wohl öfter mal tummeln.
Gefällt mir.

LG Ulrike-Leserike