Etablierte Formen sind aber auch substantivierte Partizipformen. Da die Partizipien von Verben den Aspekt/Tempus bewahren, können sie oft an solche Stellen treten, aber natürlich nicht, ohne nicht selbst Probleme zu verursachen.
Das Partizip der Vergangenheit produziert als Substantiv meist ein Objekt/Experiencer/Patiens etc. und auch mit Vergangenheitsbedeutung, zumindest der Einstieg der Verbhandlung begann in der Vergangenheit.
"Missbrauchte" trägt diese Bedeutung, einmal sowieso die Opferrolle als Patiens, aber auch die Vergangenheitsbedeutung des Verbs.
"Missbrauchende" hat dann natürlich die aktive Bedeutung als Agens und eine Gegenwartsbedeutung.
Die Vorsilbe mit "ex-" funktioniert nur bei einem kleinen Set von Wörtern, vor allem solchen, die einen Titel bezeichnen, den man wieder verlieren kann, ohne aber das (ehemalige) Tragen dieses Titels rückgängig zu machen. "Exweltmeister" bedeutet, man war mal Weltmeister, ist es nun aber nicht. Bei anderen Sachverhalten, die etwas schwammiger sind, wie Verbhandlungen, würde das andere Dinge bewirken, die semantisch von den meisten wohl als unmöglich angesehen würden. "Exmissbrauchsopfer" würde nicht einfach bedeuten, es passierte in der Vergangenheit ohne Auswirkungen auf das Heute, sondern es klänge eher wie ein kruder Verein, der ähnlich der Homosexuellenkonversionstherapie aus Missbrauchsopfern Menschen machen kann, die nie missbraucht wurden.
Zitat:Hintergrund und Beispiel: mir fehlt ein solches Konstrukt für das Wort Missbrauchsopfer, wenn es um Erwachsene geht, die in ihrer Kindheit Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Der eigentliche Opferstatus bezieht sich auf ein Geschehen in der Vergangeheit, hat aber eine große Auswirkung auf das Leben bis in die Gegenwart. Im Erwachsenenalter entweder von sich selber oder von anderen als Opfer bezeichnet zu werden, führt zu Mißverständnissen, insbesondere dem Vorwurf, dauerhaft eine Opferrolle einnehmen zu wollen.
Ich glaube eher, dass hier das Problem darin liegt, dass du unbedingt das Wort "-opfer" nehmen willst, ohne dass es noch immer "Opfer" bedeutet. Benutz doch einfach "missbrauchte Person", dann musst du keine Assoziation mit "Opfer" provozieren, sprichst aber semantisch genau. Aber anders als mit "Ex-" arbeiten zu können, ist "Opfer" nicht wirklich ein veräußerbarer Titel, der einfach ablegbar ist. Um aber eine semantische Bedeutung zu erzeugen, die deiner Vorstellung entspricht, musst du wahrscheinlich einfach eine andere Wortwahl wählen. "Missbrauchopfer" will ja eben genau das bedeuten: Man wurde missbraucht und sieht sich selbst als Opfer, oder es wird einem unterstellt, man sei (noch) das Opfer, bzw. dass es sprichwörtlich aufgefasst wird, dass man missbraucht wurde, was nicht rückgängig gemacht werden kann. "Vermissbrauchopfer", um auszudrücken, man sei kein Opfer mehr, hat da eine gewisse Diskrepanz, weil der Kopf des Kompositums immer noch "Opfer" ist und die Vorsilbe "Ver-" natürlich noch keinen Status für diese Bedeutung hat. "das ehemalige Missbrauchsopfer" würde deiner Bedeutung näher kommen, aber weil das Konzept an sich kein gängiges ist, also dass man sich ganz deutlich davon abgrenzen will, kein Opfer mehr zu sein, wird es nicht deutlich verstanden. Wie gesagt, "Opfer" ist nicht so eindeutig ein Titel, der durch eine Vorsilbe als "abgelegt" markiert werden kann, deswegen ist das Wortbildungsmuster nicht so einfach.
Ich glaube, eine ähnliche "Diskrepanz" gibt es heute auch bei dem Ausdruck "ich leide unter ..." und man dann einen medizinschen Zustand nennt, unter dem man eigentlich gar nicht aktiv 'leidet'. Hier sieht man, dass "leiden" seine ursprüngliche Bedeutung verändert hat. Ich habe schon gelesen, wo jemand schrieb "Ich leide unter Pareidolie." (Also Muster sehen, wo keine sind.) Aber jeder hat das, und man leidet nicht darunter. Theoretisch wäre für mich "Ich leide unter Farbenblindheit." auch irreführend, weil ich nicht leide, aber der Ausdruck benutzt wird, um einer Person ein medizinischer Zustand zuzuweisen. Ähnlich verhält es sich hier bei "Opfer". Man muss sich nicht immer noch als aktives Opfer sehen, um in der Vergangenheit mal einem Missbrauch untergangen zu sein und diese lexifikalisierten Zuschreibung zu bekommen. "-opfer" hat hier eine gewisse Bedeutungsänderung bekommen zu haben, ich würde mich da gar nicht so sehr drauf aufhängen. (Und ich will hier Missbrauch nicht runterreden, damit das klar ist.)
Sprache entsteht ja auch durch Prägung von gewissen Kombinationen durch Morpheme und dann eine Lexifizierung, bzw. dass ein Ausdruck zumindest eine gängige Kombination wird. Dazu muss das Konzept wahrscheinlich der Sprache vorausgehen, zuerst würde es umständlich formuliert werden, bis der Drang nach einer kürzeren Ausdrucksweise stärker wird, weil es so geläufig ist.