Unterschied zwischen „übersetzen“ und „übermalen“?

Hallo ihr Sprachler!

Am Wochenende folgende Situation:
Kind: „wer war Gutenberg?“
Vater: „Der hat die Bibel übersetzt.“
Kind: „(...) Wie?“
Vater: „Na, der hat sie aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt.“
Kind: „Aber wie hat der das gemacht, die über...- ZU übersetzen?“

Darüber denke ich seitdem quasi ununterbrochen nach. Hätte Gutenberg die Bibel nicht übersetzt, sondern eben übermalt, wäre es richtig gewesen, dass der Kleine mit dem Präfix begonnen hat. Warum also ist sowohl vom Sinn, als auch von der Grammatik her richtig „geschafft, die *zu* übersetzen“ und „geschafft, die über*zu*malen“? Überzusetzen ist ja etwas gänzlich glich anderes... Was unterscheidet die beiden Wörter grammatikalisch denn so?
Und, passt zwar nicht ganz in dieses Unterforum, aber wo ich dabei bin: Woher, zum Kuckuk, wusste das wirklich junge Kind, nachdem es das Wort „falsch“ angefangen hat, dass das nicht richtig war? Ich weiß es Jan auch nicht xD

Ich bin für erleuchtende Antworten mehr als dankbar! Und großartig, dass es so ein Forum überhaupt gibt!

Neo

Hallo Neo,

ich vermute, dass das prosodisch bedingt ist. Es ist ein paar Jahre her, aber ich habe mal eine Hausarbeit zu den prosodischen Bedingungen von Affixen geschrieben.
Die Voraussetzung für das ge-Präfix beim Partizip II ist beispielsweise, bei mehrsilbigen Wörtern, dass der Hauptakzent auf der ersten Silbe des ersten phonologischen Wortes liegt UND dass das erste phonologische Wort nur einen Fuß enthält. Würde man also bei deinem Beispiel "übersetzen" bleiben, so muss man unterscheiden: übersétzen (wie in diesem Falle) oder übersetzen (mit dem Hauptakzent auf dem ü). "Er hat versucht, die Bibel zu übersetzen" vs. "Er hat versucht, das Schiff überzusetzen."
Verstehst du, worauf ich hinaus will? Sorry, es ist schon spät und ich kann es gerade nicht so genau erklären :D

Das würde meiner Meinung nach aber auch erklären, wieso das kleine Kind den Unterschied bemerkt hat. Es hat ja die prosodischen Regeln seiner Sprache schon verinnerlicht.

Ich hoffe, ich konnte die helfen.

Literaturtipp: Wiese, Richard (2000): The Phonology of German (The Phonology of the World’s Languages). Oxford: Oxford University Press

ProNeologismen schrieb:„geschafft, die über*zu*malen“

Aber "überzumalen" ist überhaupt nicht grammatisch richtig.
Da der Akzent auf dem Verb liegt und nicht auf dem Präfix* lautet der zu-Infinitiv "zu übermalen". Das bestätigt der Duden.

*"über" ist allerdings kein Präfix in "ǘbersetzen". Es handelt sich hierbei um ein Kompositum.


Ich schließe mich annika.luks hinsichtlich der intuitiv richtigen Verwendung von "zu" an.

LG~Y

Vorsicht, Vorsicht: im verbalen gibt es keine Komposition, jedenfalls dann nicht, wenn man Beispiele wie brennschweißen ausklammert. Hier argumentieren einige Autoren, dass zwei Verbstämme komponiert werden. Ansonsten ist die Annahme der Verbkomposition nicht sehr weit verbreitet.
Wie schon Yaouoay meinte, ist überzumalen kein regulär gebildeter zu-Infinitiv. Die Regel hierfür ist relativ einfach und kommt auch völlig ohne Rekurrenz auf den Verbakzent aus: Syntaktisch trennbare Verben (Ich schlafe heute aus.) werden auch morphologish getrennt, wenn der zu-Infinitiv gebildet wird. Ansonsten nicht. (Der asterisk untenmeint, dass die Bildung ungrammatisch ist.)


Ich übermale das Bild./*Ich male das Bild über. -> zu übermalen/*überzumalen

Ich übersetze das Buch./*Ich setze das Buch über. -> zu übersetzen/*überzusetzen

*Ich übersetze den Fluss./Ich setze über den Fluss über. -> *zu übersetzen/überzusetzen

*Ich ausschlafe heute./Ich schlafe heute aus. -> *zu ausschlafen/auszuschlafen


Trennbare Verben werden meist Partikelverben und nichttrennbare Präfixverben genannt. Die obige Regel ist Teil der deutschen Grammatik. Das bedeutet nicht, dass im kreativen Gebrauch keine Abweichungen vorkommen können. Allerdings scheint das Kind aus dem Eingangsdialog diese Regel bereits verinnerlicht zu haben.

Gruß
PeterSilie[url=https://www.linguisten.de/User-Yaouoay][/url]

Zitat:Vorsicht, Vorsicht: im verbalen gibt es keine Komposition

Da bin ich aber anderer Meinung. Die sogenannten "Partikelverben" kann man auch "Partikelkomposita" nennen. Es sind eben solche, die trennbar sind, und bei denen der erste Bestandteil betont ist.
Bei einem Kompositum müssen ja nicht beide Bestandteile der gleichen Wortart angehören.
"ǘbersetzen" ist ein Partikelverb (Kompositum), während
"übersétzen" ein Präfixverb ist.
Ob "Kompositum" oder "Partikelverb" ist nun Haarspalterei und Terminologiespekulation.
(vgl. auch Wikipedia)

LG~Y

(09.12.2017, 13:14:49)PeterSilie schrieb: Vorsicht, Vorsicht: im verbalen gibt es keine Komposition, jedenfalls dann nicht, wenn man Beispiele wie brennschweißen ausklammert. Hier argumentieren einige Autoren, dass zwei Verbstämme komponiert werden. Ansonsten ist die Annahme der Verbkomposition nicht sehr weit verbreitet.

Das sieht man in der üblichen Literatur zur Wortbildung aber anders, finde ich. Und wieso sollte man Komposita wie schweißbrennen, spazierengehen usw ausklammern, nur weil die Kompositionsbasen etwas abweichend sind (mal mit mal ohne Infinitvsuffix)?

@ProNeologismen willkommen. Du bist bei uns schon richtig mit der Frage.

Auf Facebook gab es auch Feedback zu dem Thread:
https://www.facebook.com/linguisten/post...&ref=notif

Der mit der Bibelübersetzung war übrigens Luther. Gutenberg hat es dann gedruckt.

Typologisch gesehen kommt Verbalkomposition schon durchaus vor. Allerdings ist es nur in Sprachen bestimmter morphosyntaktischer Typen stärker ausgeprägt (Sprachen, die primär head-marking sind, oder wenig bis gar keine Markierungen aufweisen; hier hat man dann ja auch öfter mal verwandte Phänomene wie serielle Verbkonstruktionen). Die andere Frage wäre, ob Verbalkomposition im Deutschen ein produktiver Prozess ist; mein Verdacht als Nicht-Germanist ist, dass das nicht zutrifft.

Ich bin ja durchaus der Auffassung, dass schweißbrennen als Kompositum angesehen werden kann. Allerdings ist verbale Stamm-Komposition kein produktiver Prozess im Deutschen, sondern meist auf bestimmte Fachsprachen, wie hier das Metall verarbeitenden Gewerbe beschränkt.
Unproblematisch ist diese Zuordnung vor allem deshalb, da Verben wie schweißbrennen morphologisch und syntaktisch nicht trennbar sind. Partikelverben aber schon. Und das ist das Problem: Derivation wie Komposition sind zwei morphologische Prozesse, die feste Kobinationen hervorrufen. Andernfalls müsste man erklären, warum das lexical integrity principle gerade bei diesen komplexen Verben nicht gelten sollte, bei allen anderen morphologisch gebildeten Produkten aber schon.
Ebenso bringt die Betrachtung als Komposition noch ein anderes Problem mit sich: Die Verbpartikeln sind, wenn sie monosyllabisch sind, präpositionalen Ursprungs; die mit mehr Silben entstammen auch anderen Wortarten wie den Adverbien. Allerdings haben Verbpartikeln mit ihrem präpositionalen Pendant nur noch sehr wenige Bedeutungsgemeinsamkeiten:

vorstellen vs. vor dem Haus
umschulden vs. um den Ort herum
abkühlen - ab morgen

Schließlich spricht gegen eine Berachtung als Komposition auch die Tatsache, dass die Valenz von Partikelverben nicht regulär zur Valenz der entsprechenden Simplexverben steht:

Valenzreduktion
geben (NOM, DAT, AKK) - (einen Brief/ein Päckchen) aufgeben (NOM, AKK)
geben (NOM, DAT, AKK) - aufgeben (NOM)

gleichbleibende Valenz
geben (NOM, DAT, AKK) - abgeben (NOM, DAT, AKK)
graben (NOM, AKK) - ausgraben (NOM, AKK)

Valenzerweiterung
bleiben (NOM) - aufbleiben (NOM, temporales Adv.)
stimmen (NOM, AKK) - einstimmen (NOM, AKK, PP_auf)

Hierbei habe ich nur die syntaktische Valenz berücksichtigt, die Hinzuziehung der semantischen Valenz macht das Bild noch einmal komplexer. So kann graben nur ein Akkusativobjekt wie Loch haben, ausgraben aber nur etwas wie Knochen o. ä.

Gerade der Bereich der Komposition ist aber eigentlich vergleichsweise vorhersagbar, es gibt nur eine Handvoll semantischer Beziehungen zwischen EG und ZG. Die obigen EIgenschaften passen nicht ins Bild der Komposition.

Viele Grüße
PeterSilie

Hallo, um nochmal an das "übermalen" anzuknüpfen: Ich merke gerade, wie es da, wo ich herkomme, ganz normal ist, "übermalen" auf der ersten Silbe zu betonen und daher die vom Fragesteller angenommene andere Fehlerkomponente zu benutzen, nämlich "überzumalen" oder "ich habe das Bild übergemalt". Das trifft zumindest für meinen Idiolekt als auch für meine Heimatsumgebung, östlich von Hamburg, zu. Wir sagen auch "überzustreichen", "überzuschreiben" (wenn man mit einem Tintenkiller ein altes Wort überschreibt) im Gegensatz zu "zu überschreiben" (wenn man Geld überschreibt). 

Die von annika.luks beschriebene Herleitung für die Formen scheint sich ja auch als Regel zu eignen für englische Neologismen, die semantisch teilbar scheinen, aber keine Partikelverben sind. So infigieren manche Sprecher ein "zu" oder "ge-" in Wörter wie "downloaden, rebloggen, uploaden", weil sie auf der ersten Silbe betont werden und semantisch komplex erscheinen, ohne dass sie Partikelverben sind, da keiner sagen würde "*Ich loade down, *blogge re oder *loade up." Müsste man deshalb von einer dritten Kategorie ausgehen oder ist das einfach nur eine unzureichende Anwendung von 'deutschen' Regeln?

(13.01.2018, 14:41:36)Kevin schrieb: Hallo, um nochmal an das "übermalen" anzuknüpfen: Ich merke gerade, wie es da, wo ich herkomme, ganz normal ist, "übermalen" auf der ersten Silbe zu betonen und daher die vom Fragesteller angenommene andere Fehlerkomponente zu benutzen, nämlich "überzumalen" oder "ich habe das Bild übergemalt". Das trifft zumindest für meinen Idiolekt als auch für meine Heimatsumgebung, östlich von Hamburg, zu. Wir sagen auch "überzustreichen", "überzuschreiben" (wenn man mit einem Tintenkiller ein altes Wort überschreibt) im Gegensatz zu "zu überschreiben" (wenn man Geld überschreibt).

Das geht bei uns, nordwestlich von Hamburg, ebenfalls. Wenn wir unseren Schuppen gestrichen haben, haben wir ihn übergemalt. ;;)

Zitat:Die von annika.luks beschriebene Herleitung für die Formen scheint sich ja auch als Regel zu eignen für englische Neologismen, die semantisch teilbar scheinen, aber keine Partikelverben sind. So infigieren manche Sprecher ein "zu" oder "ge-" in Wörter wie "downloaden, rebloggen, uploaden", weil sie auf der ersten Silbe betont werden und semantisch komplex erscheinen, ohne dass sie Partikelverben sind, da keiner sagen würde "*Ich loade down, *blogge re oder *loade up." Müsste man deshalb von einer dritten Kategorie ausgehen oder ist das einfach nur eine unzureichende Anwendung von 'deutschen' Regeln?

Das ist ein total spannendes Thema. Damals habe ich meine BA darüber geschrieben  ;)  Ich empfehle das hier dafür:

Hausmann, Dagmar (2006): "downgeloaded" und "geforwardet" : Sprecherverhalten in morphologischen Zweifelsfällen am Beispiel des Sprachgebrauch im Internet. Arbeitspapier (Universität zu Köln. Institut für Sprachwissenschaft) n.F., Nr. 50. Ich setze keinen Link, aber man findet es sehr einfach. :)