Das kannst Du vergessen!
Gefühle und Gefühlsneigungen als Handlungsmuster -
argumentativ.
Worum es geht:
- Das Verstehen eines Kurztextes
- Die Szenarien in der Semantik von „Gruß“ und Grüßen“
- Die Szenarien in der Semantik von „vergessen“
- Die Klärung mehrdeutiger und mehrdeutbarer Passagen durch Kontexterhellung
(1) Grüßen oder Nicht-Grüßen?
So etwa sieht ein Kurztext aus, an dem man zeigen kann, wie unser Bewusstsein mit Texten umgeht, wie es Texte probierend Texte zu verstehen sucht.
Wenn ich abends müde von der Arbeit nach Hause komme,
den ganzen Ärger des Tages noch auf meiner Haut,
ist mein Gruß meist nicht zärtlich zu dir,
oft mürrisch,
oft auch ganz vergessen.
Ein erstes Aufnehmen dieser – offensichtlich häuslichen -. Szene nach Rückkehr von der Arbeit draußen - führt wahrscheinlich zu mehreren Lesarten. Drei will herausgreifen:
a) Der Gruß wird nicht ausgeführt, oft nicht ausgeführt: er „ist vergessen“
b) Der Gruß wird ausgeführt, aber offensichtlich nicht in der angemessenen Form.
Der Gruß, oder besser: der Grüßende wirkt dann irgendwie geistesabwesend, der Gruß selber nur flüchtig und nicht intensiv genug: er ist „oberflächlich“.
c) Eine dritte Verstehens-Variante ist wohl weniger naheliegend, nimmt aber eine interessante Zwischenstellung zu (a) und (b) ein und fokussiert vor allem den Empfänger des Grußes: Der Gruß wird zwar ausgeführt, ist aber vom Rezipienten – aus welchen Motiven auch immer – vielleicht auch und gerade wegen (b) kaum beachtet und daher (bald) vergessen.
(2) Grüßen, geistesabwesend, aber immerhin Grüßen
Folgende Prämissen sprechen für (b), also für die These von einem „geistesabwesenden“, nicht vollgültigen Gruß in einer abendlichen Heimkehrsituation:
Eine häusliche Gemeinschaft erfordert recht dringlich unter Höflichkeitsaspekten den Gruß des Heimkehrenden – so jedenfalls unser „soziales Wissen“. Liegt kein „Krach“ vor und der ist zumindest nicht erwähnt, so ist der Gruß mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Und hat hier „daher“ auch stattgefunden. Aber eben in einer sehr reduzierten Form.
„Vergessen“ bezeichnet ein Ereignis im menschlichen Bewusstsein. Das Wort meint einen weitgehend der Kontrolle entzogenen mentalen Vorgang. Ein menschliches Subjekt „agiert“ im Szenario „vergessen“ so, dass es wohl ohne Handlungskontrolle als eine Art Vorgangsträger (vgl Dowty) eine undramatische Bewusstseinstrübung erfährt. Undramatisch weil unser Gedächtnis im Laufe der Zeit nachlässt, wohl aber Wichtiges eher speichert als Unwichtiges. Und weil sich Menschen mit diesem Vorgang seit jeher abzufinden wissen.
Vertiefend zu dieser These. Ein „absichtliches“ Vergessen – etwa als Reaktion auf einen Krach ist aus mehreren Gründen unwahrscheinlich.
Erstens ist der Gruß „meist nicht zärtlich“. Also wird er doch als Norm praktiziert, und zwar unter dem Aspekt der Zeit und dem Aspekt der Höflichkeit. Wenn auch nicht in seiner optimalen Form.
Zweitens: Selbst wenn er willentlich nicht praktiziert würde. Man wählt dann nicht das Lexem „vergessen“ oder allenfalls eine ironisch getönte Wendung, die man dann etwa durch „Gänsefüßchen“ oder andere Indizien als ironisch gemeint deutlich macht. Das aber fehlt hier doch.
Drittens: Da die Deutung „ironische Wendung“ wohl ausfällt, müsste man ein bewusstes Vergessen ansetzen. Das ist aber - semantisch gesehen – ein gewisser Widerspruch. Denn anders als „Verdrängen“ konzipiert „vergessen“ ja einen unbewussten Vorgang. Im Stellenkonzept des Verbs ist kein Agens vorgesehen.
Anmerkung:
Anders dieser Satz und sein Verb. „Der Lehrer unterrichtet Schüler“ präsentiert mindestens zwei Rollen: das Agens „Lehrer“ und das Patiens Schüler“.
(3) Nichtgrüßen und Grüßen bei Geistesabwesenheit, zwei gleich plausible Thesen?
(3.1) Makrotextur: Ich und Du – Zärtlichkeit perdu
Also liegt wohl im Text und seiner Passage „Der Gruß ist oft auch ganz vergessen“ eine Abweichung vom Standardgebrauch vor. Und zwar eine erhebliche. Gemeint war sicherlich oder höchstwahrscheinlich, dass der Heimkehrer „selbstvergessen“ und „geistesabwesend“ agiert.
Dann allerdings – das richtet sich gegen das Monopol von (b): Dann sind zweierlei „Aktionen“ und deren Verbalisierung möglich. Er grüßt gar nicht. Er grüßt geistesabwesend „schwundstufig“. Beides damit kompatibel, dass der Heimkehrende „geistesabwesend“ ist.
Wie steht es um die Plausibilität dieser zwei Interpretationen? Gehen wir in das Format der fraglichen Passage, betrachten wir ihre Grobstruktur und ihre Details:
Wenn ich abends müde von der Arbeit nach Hause komme,
den ganzen Ärger des Tages noch auf meiner Haut,
ist mein Gruß meist nicht zärtlich zu dir,
oft mürrisch,
oft auch ganz vergessen.
Ein vollgültiger Konditionalsatz? Schon auch. Aber eher – zunächst jedenfalls - ein iterativer Temporalsatz mit einem verdeckten „jedesmal wenn“ zu Beginn. Man vergleiche etwa: „Er hat es bedauert, wenn er dich verletzt hat“. Oder „Er bedauert es, wenn er dich verletzt hat“(vgl Zifonun 2261f, 2282ff.). Die konditionale Lesart rückt hier und in unsrem Beispiel in den Hintergrund.
Dann ein Folgesatz („ist mein Gruß meist nicht zärtlich zu dir“). Die Prädikativ-Konstruktion „ist zärtlich“ wird nun expandiert und aufgestockt durch „oft mürrisch“ und unser diskutiertes „ganz vergessen“. Die beiden Prädikativa sind durch ein „oft“ begleitet und im dritten Prädikativum mit der Partikel „ganz“ steigernd präsentiert.
Dem Wenn-Satz unmittelbar angeschlossen ein „absolut“ wirkender Satz („den ganzen Ärger des Tages noch auf meiner Haut“), eine Art latenter Partizipsatz („den Ärger noch auf der Haut habend“), das „Ich“ des „Wenn-Satzes“ attribuierend und „charakterisierend“, auch wenn es gar nicht um seinen „Charakter“ geht. Sondern um ein punktuelles Verhalten eines Ich zu einem „Du“.,
Recht deutlich, dass hier ein bestimmtes Figurenarsenal die Besetzung bestimmt: Ein wohl – in traditioneller Weise aushäusig arbeitender Mann kommt abends zurück in den Privatraum, der von einem „Du“, wohl der Frau, eingenommen wird. Der Zärtlichkeitsaspekt einer solchen Beziehung wird angespielt und als demontiert oder beeinträchtigt geschildert: Die Haut als ein Organ für Berührungen und wärmende Nähe ist von Arbeit belegt, eine metaphorisch durchaus interessante Wendung. So ist denn der Gruß, der Nähekontakt impliziert auch noch aus der Arbeitswelt fremdbestimmt und gestört: „meist nicht zärtlich zu dir“.
(3.2) Mikrotextur: Maispoulardenbrust, Käsekrainer, das „Miteinander ohne Gewalt“ und human-klassische Rezepte
Semantisch wird hier nun eine informative Skalierung eingesetzt: Das „nicht zärtlich“ steigert sich negativ zu „mürrisch“ und dann kommt – wohl als negative Klimax zu lesen – das „ganz vergessen“.
Im temporal gefärbten „wenn-Satz“ und seiner deskriptiven Perspektive wird eine kausale Unter-Strömung fühlbar: Arbeit und Abgespanntheit als Ergebnis der Arbeitswelt bedingt mental-emotionale Ermüdungserscheinungen und damit eine Kümmerform der abendlichen Partnerschaft. Möglicherweise – und das ist jetzt durchaus nicht mehr unwahrscheinlich – ist diese mental-psychische Verfasstheit so stark, dass der Heimkommende „ganz auf den Gruß“ vergisst“. Die Lesart (a) ist so zu einem ernsthaften Konkurrenten für die Lesart (b) geworden. Und unsere zwei Interpretationen dürften nicht unbedingt mehr als gleichwertig gelten.
Immerhin bleiben doch noch Einwendungen: Kann das Ich hier „bewusst den Gruß vergessen“? Ein Vergessen impliziert ja eher unbewusste, nicht willentlich gesteuerte Vorgänge. Nun wäre erst einmal ganz simpel zu entgegen, dass damit wohl eine Standard-Bedeutung des Verbs „vergessen“ erfasst ist, dass das Verb aber offener in seinem Konzept ist: Ein Aufrufen von Cosmas II des IDS Mannheim liefert entsprechende Belege:
Beleg 1
Bei diesen Spezialitäten möchte man seine Manieren eher vergessen als verbessern und zum Zeichen der Freude laut schlürfen: Kartoffel-Frischkäse-Terrine mit Spitzen von weißem und grünem Spargel, Maispoulardenbrust und karamelisiertes Strudelblatt. Menüs und Benimm-Unterricht von Prinzessin Feodora zu Hohenlohe-Oehring für das korrekte Verhalten bei einem Geschäftsessen standen bei der diesjährigen "Quadriga" auf dem Programm. "Solche Dinge werden im Assessment-Center immer häufiger geprüft", erklärt Barbara Ewald von der Studentenorganisation Aiesec die Idee, dieses Seminar anzubieten. In den vergangenen drei Tagen hatten zehn Studenten der drei Berliner Lokalkomitees von Aiesec zum Firmenkontaktforum "Quadriga" geladen. Zum neunten Mal schickten namhafte Unternehmen wie Gerling, BASF, Deutsche Bank, Schitag, Ernst & Young u.a. Mitarbeiter in den Lichthof der Technischen Universität.
Berliner Morgenpost, 11.06.1999, S. 32, Ressort: HOCHSCHULE & WISSENSCHAFT; Frischkäse-Terrine mit Spargel
Der erste Satz legt eine begrenzt willentliche Steuerung von Vergessensvorgängen nahe. Die Stimme moralischer Normen wird überhört oder gar abgewürgt. Genussvoll ausgeblendet , um des Genusses willen.
Ähnlich dieses Beispiel aus Österreich:
Beleg 2
Es gab überraschend wenig Ausschreitungen, höchstens brisante Wortgefechte bei den Verköstigungsplätzen. Für 50 Schilling und unter Einsatz der Ellbogen konnte man einen Becher Flüssigkeit oder "a Eitrige" (Käsekrainer) erringen. Wer sich anschließend zivilisiert erleichtern wollte, bedurfte einer kräftigen Blase - die meterlangen Warteschlangen vor den Toiletten ließen jedoch viele Fans gute Manieren vergessen.
Salzburger Nachrichten, 22.08.1994; Alle Wege führten nach Wiener Neustadt - Bildandenken waren nicht
Auch die gewisse Süffisanz dieser Gazette aus Österreich gegenüber den preußischen Vettern ist nicht nur tribal aufschlussreich, die Passage lässt doch auch auf eine anthropologische Konstante des Vergessens schließen:
Beleg3
Zu einer Massenschlägerei ist es am Sonntag in Berlin ausgerechnet bei einem Fußballturnier gekommen, das unter dem Motto "Miteinander ohne Gewalt" stand. Die Prügelei hat wie immer mit einer lapidaren Beschimpfung begonnen, daraufhin haben Fußballer und Zuschauer das Motto der Veranstaltung im wahrsten Sinn des Wortes "schlagartig"vergessen und aufeinander losgeprügelt.
Salzburger Nachrichten, 19.05.1992; VERRÜCKT
Hier deutet sich an, dass „vergessen“ nicht unbedingt einen langsamen, gleichförmig und selbstlaufenden Prozess anthropologischer Insuffizienz abdeckt, sondern eben auch spontane, nicht unbedingt völlig bewusste Aktionen, in denen sich der Ausführende über geltende Normen hinwegsetzt, freilich ohne sie im traditionellen Sinn des Wortes zu „vergessen“. Ein Schema durchaus, ein anthropologisches „script“.
Die angeführten Beispiele markieren - jenseits von langdauernden Prozessen - die Dominanz situativer Faktoren und ihre Wirkung auf das Entscheidungs- und Verhaltenssystem der damit Konfrontierten : Das appetitliche Essen motiviert den Genießenden zu einem Normbruch gegenüber Regeln der Wohlanständigkeit. „Zivilisiertes“ Benehmen ist an eine „kräftige Blase“ gebunden. Fehlt sie, so fehlt es bald daran.
(3.3) „vergessen machen“ und „ vergessen lassen“
Interessant die standardisierten Wendungen „ etwas vergessen machen“ oder „etwas vergessen lassen“. Recht häufig wird die Subjektstelle dieser Ausdrücke nicht durch menschliche Akteure besetzt, sondern eben durch außermenschliche Entitäten. Selbst wenn Emotionen, also zutiefst Menschliches im Spiel ist, legt unser Sprachmodell Wert darauf, einen Stimulus außerhalb in Betracht zu ziehen und so normabweichendes, kulturell weniger wertvolles Verhalten zu erklären, wenn nicht sogar zu rechtfertigen. Auf jeden Fall aber in den Bezirk zu transportieren, wo man von fahrlässiger Inkaufnahme des Fehlverhaltens, aber eben doch von Entschuldbarem oder Entlastendem sprechen kann.
Nicht unerwähnt bleibe ein klassisch -humanistischer Ansatz der Vergessenssemantik. Goethe etwa sieht bei einer Märchenlesung eine Lockerung festgefügter, oft korsettierender Normen im literarischen Spiel:
Beleg 4
[…]die vier Zurückgebliebenen fühlten sich verlegen, ehe man sich's versah, und es ward sogar ausgesprochen, daß des Vaters Ausbleiben die Angehörigen beunruhige. die Unterhaltung fing an zu stocken, als auf einmal der lustige Junker aufsprang und gar bald mit einem Buche zurückkam, sich zum Vorlesen erbietend. Lucinde enthielt sich nicht zu fragen, wie er auf den Einfall komme, den er seit einem Jahre nicht gehabt; worauf er munter versetzte: "mir fällt alles zur rechten Zeit ein, dessen könnt ihr euch nicht rühmen". er las eine Folge echter Märchen, die den Menschen aus sich selbst hinausführen, seinen Wünschen schmeicheln und ihn jede Bedingung vergessen machen, zwischen welche wir, selbst in den glücklichsten Momenten, doch immer noch eingeklemmt sind. "was beginne ich nun!" rief Lucidor, als er sich endlich allein fand: "die Stunde drängt; zu Antoni hab' ich kein Vertrauen, er ist weltfremd, ich weiß nicht, wer er ist, wie er ins Haus kommt, noch was er will; um Lucinden scheint er sich zu bemühen, und was könnte ich daher von ihm hoffen? mir bleibt nichts übrig, als Lucinden selbst anzugehn; sie muß es wissen, sie zuerst. dies war ja mein erstes Gefühl; warum lassen wir uns auf Klugheitswege verleiten! das Erste soll nun das Letzte sein, und ich hoffe, zum Ziel zu gelangen".
Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, [Roman], (Erstv. 1821), In: Goethes Werke, Bd. 8. - München, 1982 [S. 96]
Ähnlich der junge Schiller, in seiner theoretischen Schrift von 1784 „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ preist er den Simulationsraum Theater als Stimulans der Affekte und einer Anstalt zur Weckung universaler Konzepte jenseits der Ständegesellschaft:
Beleg 5
Wenn Gram an dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsere einsamen Stunden vergiftet, wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wieder gegeben, unsre Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen. Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eignen aus – der Glückliche wird nüchtern und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an. Und dann endlich – welch ein Triumph für dich, Natur! – so oft zu Boden getretene, so oft wieder auferstehende Natur! – wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, [/color]sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.
(4) Das Modell des vergesslichen Mannes: Perfekt Passiv
„Ihrer selbst und der Welt vergessen“, so Schiller zur Funktion des Theaters und andere Stimmen über das Vergessen, wir nutzten sie, das Spielfeld des Verbs „vergessen“ anzuskizzieren und auch vermessen zu sondieren. Darin eingepflegt gewinnt unsere zentrale Passage des heimkehrenden Mannes und seines mangelhaften Verhaltens durchaus an Luzidität:
Im ersten Satz geht es um ein „Nachhausekommen“ des Ich und seine arbeitsbedingte Müdigkeit, seine Beeinträchtigung des Zärtlichkeitsorgans Haut durch den „Ärger des Tages“ , äußere Faktoren, kräftig genug, sein wenig zivilisiertes aktuelles Verhalten zu erklären und bis zu einem bestimmten Grad den Akteur zu entlasten.
Doch der Autor tut mehr, er wählt entlastende Zusatzstrategien: Er verzichtet auf ein „Ich vergesse oft ganz dich zu grüßen“. Kein Personalpronomen mehr, stattdessen das Substantiv „Gruß“. Kkein Präsens mehr, das man bei dem iterativen „wenn“ durchaus erwarten könnte, sondern ein Perfekt mit präsentisch-präteritaler Färbung: Der aktuell betretene Raum der Wohnung liefert keinen Stimulus mehr. Der Arbeitsraum hat den Gruß und überhaupt zwischenmenschlich wertvolle Umgangsformen absorbiert. Willkürlich ist es nicht, das Unterschlagen des Grußes. Unwillkürlich ist es, das Unterlassen des Grußes.
Weiter: Wenn schon „vergessen“ normalerweise keine willensgesteuerte Handlung ist, warum dann nicht einfach das Aktiv setzen: „ich vergesse“? Warum dieses seltsame Passiv in „ist vergessen“.
Zwar ist latent klar, dass der Gruß und der Nichtgruß eine menschliche Handlung, die unseres Ichs ist, und dass sie oft nicht willkürlich und hochbewusst ausgeführt wird. So ist wohl der Verzicht aufs Aktiv eine Doppelcodierung, eine Superentlastung. Und: Stärker ins Gewicht fällt und soll fallen, was da an Außenkräften wirkt und „verantwortlich“ ist. Das Passiv könnte, aber muss nicht in einer präpositionalen Phrase das Agens beibringen: „Der Gruß ist oft [von mir] vergessen.“ Dann wäre es mit der „Von-Phrase“ sehr nahe an dem „Ich vergesse/ich habe vergessen“. Insofern ist das ausgedünnte Passiv (ohne von-Phrase) gut geeignet, das Geschehen zu betonen und den menschlichen Urheber sogar als nebenamtlichen Mitakteur auszuklammern und so als „First Mover“ die Zwänge der Arbeitswelt unterschwellig zu installieren.
„Ausklammern“, „ausblenden“, verdrängen“, das sind negativ konnotierte Verben. Aber solche Gewichtsverlagerungen mögen eine durchaus legitime Strategie sein, wenn man eine Wirkungskette konstruieren will, in der der menschliche Akteur eher Patiens ist, eigentlich „nur“ so reagiert, wie es die ermüdende Vorsituation mit sich bringt. Eine legitime Strategie, wenn man den von Arbeit dominierten Zeitraum des Arbeitstages als die Zeitphase bezeichnen will, deren Geltung die Geltung des privaten Abendraums in dämmernde Vergessenheit gebracht hat. Die Erst- und Hauptursache hat - in der Perspektive des Schreibers - den ihr gebührenden Raum zugeordnet bekommen, syntaktisch, semantisch, partnertaktisch.
Ein perfektes Passiv, entlastend vom Vorwurf voll bewussten Handelns und nicht so überdehnt und strapaziert, dass es sich abtun ließe, als billige Strategie zivilisierter roher Unmenschen der Gattung Mann.
Zu (guter) Letzt
Wer wird auch das noch goutieren? Bei Google-Book findet sich die fragliche Passage, als karges Snippet-Fraktum nur, aber weich und hart genug, unsere Überlegungen zu unterfüttern.
Beleg 6
Jo Hanns Rösler (1940): Liebesbrief an die eigene Frau –
187 Seiten - Snippet-Ansicht
Es sieht wohl oft so aus.
Wenn ich abends müde von der Arbeit nach Hause komme,
den ganzen Ärger des Tages noch auf meiner Haut,
ist mein Gruß meist nicht zärtlich zu dir,
oft mürrisch,
oft auch ganz vergessen.
Dann setzen wir uns um ...
Literatur:
Dowty, David (1991): Thematic proto-roles and argument selection. In: Language 67, S. 547-619
Musan, Reante (2008): Satzgliedanalyse. Heidelberg: Universitätsverlag Winter
Primus, Beatrice(2012): Semantische Rollen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter
Zifonun, Gisela (u.s.) (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Drei Bände. Berlin: de Gruyter