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Sprachirritierter > 05.11.2011, 02:43:51
suz > 05.11.2011, 10:11:04
Sprachirritierter > 05.11.2011, 19:29:00
(05.11.2011, 10:11:04)suz schrieb: Zunächst: 'Sachverhalt' und 'Bedeutung', wie du es nennst, sind bei sprachlichen Äußerungen nie voneinander zu trennen. Streng genommen gibt es also, abgesehen von wenigen Ausnahmen, keine falsche Verwendung eines Begriffs, erst recht nicht, wenn dieser 'Fehler' von einer genügend großen Anzahl von Sprechern gemacht wird und der Großteil versteht, was damit gemeint ist - wenn also klar ist, auf welches Bezeichnete (Inhalt) mit dem Bezeichnenden (Form) verwiesen wird. All das trifft auf 'Migranten', 'Migrationshintergrund', 'Migrationsprobleme' zu.
Rein sprachlich ist hier eigentlich alles ok: Ein Begriff, der ja eine Bewegung beinhaltet, erfährt eine Bedeutungserweiterung (ein Begriff kann ja immer mehrere, auch kaum oder nicht mehr sichtbare verwandte Bedeutungen haben) und wird in Kontexten verwendet, wo die Bewegung an und für sich schon vor langer Zeit abgeschlossen wurde. Wenn es noch eine Relevanz hat, nutzen Sprecher die Möglichkeit, darauf zurückzugreifen. Außerdem spielt Kontext eine Rolle: 'Migrationsprobleme' hat eine ganz andere Bedeutung (obgleich natürlich immer noch mit Bewegung!), wenn man im Computerkontext von Datenportierungen spricht.
Zitat:Davon unabhängig ist, dass die Verwendung von 'Migration' im Zusammenhang mit Einwanderern aber auf einer politischen Ebene zu kritisieren ist: von Menschen mit Migrationshintergrund zu sprechen (die ja früher 'Ausländer' genannt wurden, bis man das als unkorrekt verwarf - mittlerweile scheint 'Migrant' bereits diese Konnotation zu haben -- auch ein sehr normaler Prozess, übrigens) maskiert, dass diese Menschen eben nicht mehr auf Wanderschaft sind, sondern zu unserem Gesellschaftsleben oft ja schon in dritter Generation dazu gehören. Von den vielen Deutschen, die im 19. Jahrhundert aus Polen kamen oder Mitte des 20. Jahrhunderts aus den östlichen Gebieten, würde ja nie jemand behaupten, es handle sich um Migranten. Das wäre dann also die politische Seite des Begriffs und seiner Verwendung.
suz > 06.11.2011, 23:27:32
Sprachirritierter > 07.11.2011, 02:25:16
(06.11.2011, 23:27:32)suz schrieb: Ja, so gesehen hast du recht mit der Verständnisproblematik. Offenbar nutzt man migration(s)- als eine Art Partikel, um auf eine bestimmte Gruppe von Bürgern zu referenzieren. Nicht damit gemeint sind ja in aller Regel Menschen, die aus westlichen Nationen zu uns kommen (ob EU, USA oder z.B. Japan, Australien etc.) oder diejenigen, die sich innerhalb einer wahrgenommenen Gesellschaft bewegen: Ich bin keine Migrantin, weil ich vor zehn Jahren aus dem Schwarzwald nach Hamburg und vor ein paar Monaten nach Berlin migriert bin oder habe einen Migrationshintergrund, weil ich elsässische Vorfahren habe. Gemeint sind ja meist Zugewanderte und deren Kinder aus wirtschaftlich schwächeren Ländern (meist Afrikas, (Süd-)osteuropas oder dem mittleren Osten).
Hier haben wir also meiner Meinung nach ein Beispiel für berechtige Sprachkritik: Die Verwendung des Begriffs - ursprünglich aus der 'political correctness' (obwohl ich diesen Begriff nicht mag, btw) geboren - geschieht natürlich auch aus einer tief verankerten gesellschaftlichen Sicht heraus und wird so lange dauern, wie wir immer noch versuchen, konzeptuell zwischen "uns" und "denen" zu unterscheiden. Soll heißen: Wenn wir anerkennen, dass all diejenigen zu unserer Gesellschaft gehören, dann würde Migranten sich auf diejenigen beziehen, die kürzlich gekommen sind. Geschehen ist das ja bereits mit den Polen aus dem 19. Jahrhundert.
Nun denn, ganz will ich dem Migrationshintergrund aber nicht die Berechtigung absprechen: die betroffenen Menschen haben schlicht deutliche wirtschaftliche und soziale Nachteile in Deutschland, sind höherem gesellschaftlichen Risiken ausgesetzt und eine komplette Gleichmacherei wäre ja auch nicht das Allheilmittel. Kommt also drauf an, in welchem Kontext man den Begriff verwendet.
Spannendes Thema, das.
janwo > 07.11.2011, 10:23:02
(06.11.2011, 23:27:32)suz schrieb: Hier haben wir also meiner Meinung nach ein Beispiel für berechtige Sprachkritik
Mila > 23.07.2014, 19:54:18