Ich kann jetzt nicht auf alle von dir, theolos, angesprochenen Punkte eingehen, deswegen zunächst kurz zur Erläuterung, bei welchen Punkten die (Sprach-)Wissenschaft allgemein Einwände haben könnte:
Quellenkritik: Antiken Historiografen und Geografen ist nicht blind zu vertrauen. Weder verfügen sie über so umfassende Instrumente wie die heutige Wissenschaft, noch war es immer ihr einziges Ziel, die Wirklichkeit adäquat zu beschreiben. Stattdessen spielen oft politische Motivationen eine Rolle. So attestiert z.B. Tacitus den Dakern Unzuverlässlichkeit.
Unidirektionalität: Sprachwandel- und Sprachkontaktprozesse unterliegen einer Interaktion von vielen verschiedenen Faktoren und Linguisten diskutieren deswegen etliche verschiedene Modelle von Kontaktszenarien. Es ist sehr schwer zu sagen, dass, wenn zwei Sprachen aufeinander treffen, Szenario X oder Y eintreten müsste. Besonders gilt dies, wenn wir viel zu wenig über die äußeren Bedingungen des Kontakts wie beim Machtverhältnis Römer - Daker wissen.
„Reinheit“/Isoliertheit: Du deutest es ja bereits selbst an: Für keine, auch keine vorhistorische Sprache lässt sich ausschließen, dass sie nicht selbst durch Kontakt mit anderen Sprachen beeinflusst ist. Das Lateinische zeigt seit Anbeginn seiner Überlieferung Einflüsse aus Nachbarsprachen und genauso gut ist es möglich, dass der „Dako-Thrakische Komplex“ schon vor Eintreffen der Römer in wechselseitigem Kontakt mit anderen Sprachen stand. Auch das vorausgehende Urindogermanische wird nicht frei von Kontakten gewesen sein (es wurde auch schon vorgeschlagen, dass es selbst ein Kreol wäre, wenn auch ohne Überzeugungskraft). Sprachhistoriker sind aber zugegebenermaßen selbst gern anfällig für die romantische Vorstellung der Einfachheit vorhistorischer Verhältnisse, wobei eigentlich klar sein sollte, dass die sprachliche Situation vor 2.000, 5.000 oder 10.000 Jahren nicht weniger komplex war als heute.
(19.03.2016, 18:43:41)theolos schrieb: Ich gehe nicht davon aus dass vor dem Lateinischen eine rumänische Sprache gesprochen wurde, sondern nehme an oder besser gesagt, ich stelle die Hypothese in dem Raum, dass bereits vor den Römern von den Daker eine romanische Sprache gesprochen wurde. Weswegen auch heute in dem wie besagten slawischen Meer eine lateinische Sprache gesprochen wird (begünstigt durch die relative, freiwillige Isolation Rumäniens).
Nach der Kontinuitätstheorie sind die Slawen erst nach Herausbildung des Protorumänischen nach Südosteuropa eingewandert. Es stellt sich also vielmehr die Frage, warum sich das Dakorumänische und Aromunische erhalten haben, während andere balkanromanische Sprachen und Dialekte wie Istrorumänisch und die dalmatischen Sprachen „zu Gunsten“ des Slawischen ausgestorben sind. Überhaupt muss es bis in das Mittelalter viel mehr Romanischsprachigkeit in Südosteuropa gegeben haben, wie auch der starke vulgärlateinisch/frühromanische Einfluss auf das Albanische zeigt. Sprachwissenschaftler wiederum suchen die Gründe statt in den Strukturen der Sprachen selbst oder kulturellen Eigenheiten der Sprecher (so verstehe ich dich) vielmehr in äußeren politischen und sozialen Umständen. Wichtig kann z.B. sein: Was hat die politische und kulturelle Elite gesprochen? Welche Sprache dominierte in den Städten? Welche Rolle spielten Religion und Kirche bei der Durchsetzung, Herausbildung und Standardisierung einer Sprache? Das sind Fragen, über die ich für das geografische Gebiet des Rumänischen zu wenig bescheid weiß, fürchte aber, dass es für die Frühzeit auch nur wenige Quellen dafür gibt. Letztendlich ist die heutige Sprachenkarte nur ein Zufallsprodukt dieser historischen Entwicklungen.
Abhängig von solchen Faktoren ist auch, ob ein Sprachwechsel, wie er im Rahmen der Romanisierung europaweit stattgefunden hat, 600 Jahre oder nur ein oder zwei Generationen dauert – für beides gibt es Beispiele. Ein typisches Szenario ist, dass die Vorbildwirkung einer prestigeträchtigen Elite, z.B. der politischen Führung oder des Herrscherhauses sehr stark war und von allen, die „dazugehören“ wollten, deren Sprache übernommen wurde. Auch ökonomische Gründe können eine Rolle spielen: Wer an diese, sicher vermögende Elite etwas verkaufen will, muss mit ihnen kommunizieren.
(19.03.2016, 18:43:41)theolos schrieb: Diese frühere romanische Sprache vermischte sich mit dem Lateinischen und es entstand im Laufe der Jahrhunderte die rumänische Sprache wie wir sie heute kennen. Was wie gesagt nur eine Hypothese meinerseits ist!
Ich sehe nicht ganz, woraus du diese Hypothese schließt. Ich kenne nur Klassifikationen, die die Daker entweder den Thrakern zurechnen, vor allem im sprachlichen Sinne, oder als ganz eigenständig bzw. unklar betrachten. Es gibt hier vor allem ein terminologisches Problem: „
romanisch“ bezeichnet per definitionem eine Sprache, die aus dem (Vulgär-)Lateinischen abstammt und das Lateinische wurde in antiker Zeit mit der Expansion des Römischen Reiches verbreitet. Eine Gattungsbezeichnung „lateinische Sprache“ ist nicht gebräuchlich, würde aber dasselbe meinen. Ich bin mir deswegen nicht sicher, ob wir über das gleiche sprechen. Nennen wir doch die vorrömische Sprache der Daker
Dakisch und legen uns nicht fest, wie sie genetisch zu klassifizieren ist. Dieses
Dakische können wir – mit größtem Vorbehalt – neben einer sehr geringen griechischen und römischen Nebenüberlieferung (fast nur Personen- und Pflanzennahmen) nur in Orts- und Gewässernamen der betreffenden Regionen und sogenannten Substratwörtern im Rumänischen fassen. Letztere, etwa 160-170 Wörter, bilden den Schwerpunkt der Forschung über die prä-romanische Vorgeschichte des Rumänischen. Es handelt sich um Wörter, die in keiner anderen romanischen Sprache vorkommen und keine romanische Etymologie haben, aber auch nicht aus dem Slawischen, Türkischen oder anderen Kontaktsprachen des Rumänischen entlehnt wurden. Für einige dieser Wörter finden sich offenbar verwandte Wörter in den Nachbarsprachen Albanisch sowie Bulgarisch und Makedonisch, wo sie in deren Wortschatz etymologisch ebenso isoliert sind.
Das betrifft z.B. rumän.
baligă ‚Mist, Dung‘ (alban.
baljëgë,
bajgë),
baltă ‚Pfütze, Tümpel‘ (alban.
baltë ‚Sumpf‘), rumän.
barză ‚Storch‘ (alban.
bardhë ‚weiß‘), rumän.
buză ‚Lippe‘ (alban.
buzë ‚Lippe‘), rumän.
mazăre ‚Bohne‘ (alban.
modhullë ‚eine Erbsensorte‘), rumän. dial.
mînz ‚Hengst‘ (alban.
mëz ‚Fohlen‘), rumän.
vatră ‚Herd, Feuerstelle‘ (alban.
vatër ‚Herd‘).
Das ist dir aber sicher alles bekannt, ebenso wie einschlägige Literatur. Hier trotzdem für interessierte Mitleser Standardwerke zu dem Thema (man bemerkt bereits an den Titeln die Zusammenstellung von Dakisch und Thrakisch):
Duridanov, I. (1985):
Die Sprache der Thraker. Neuried: Hieronymus Verlag 1985. [bulg. Ezikăt na trakite, Sofia 1976.]
Georgiev, V. (1972). The Earliest Ethnological Situation of the Balkan Peninsula as Evidenced by Linguistic and Onomastic Data. In: Birnbaum, Henrik / Vryonis Speros (Hrsg.):
Aspects of the Balkans: continuity and change. Mouton.
Georgiev, V. (1981).
Introduction to the history of the Indo-European languages. Sofia : Publ. House pf the Bulgarian Acad. of Sciences.
Russu, I. I. (1967).
Limba traco-dacilor. Bucharest: Editura Ştiinţifică. [dt.:
Die Sprache der Die Sprache der Thrako-Daker, Linguistische Studien, Halle: Niemeyer o.J.]
(+ weiteres von Duridanov und Georgiev)
Im Internet findet sich z.B. diese informative Liste:
https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Ro...ian_origin
(Man beachte die semantischen Felder! Hirtentermini sind ein Argument für Sprachkontakt im Rahmen der Transhumanz.)
Insofern ist dir zuzustimmen, dass es Indizien für eine vor-romanische (oder vor-lateinische) Schicht in der Sprachgeschichte des Rumänischen gibt und man von einer Sprachmischung sprechen kann. Der Anteil dieses Substrats (=Einfluss einer überlagerten Sprache auf die sie überlagernde Sprache) ist jedoch gering (<10%) und betrifft weniger den Grundwortschatz, sodass also ein Linguist das Rumänische ohne mit der Wimper zu zucken als Romanisch einordnen würde (d.h. es ist eine Sprache, die weitgehend eine Fortsetzung des Vulgärlateinischen darstellt und in dem diese Grundlage noch erkennbar ist – wichtig: auch in der Grammatik). Das schließt nicht aus, dass es daneben weitere Einflüsse von geringerem Umfang gab und gibt. Wie du ja sagst, haben auch das Griechische, Slawische, Türkische und Deutsche Spuren im Rumänischen hinterlassen. Auch das Französische ist klar eine romanische Sprache, besitzt aber einen geringen Anteil gallischer, d.h. keltischer Substratwörter.
Bisher habe ich nur über den Wortschatz gesprochen – leider ist das auch der einzig ergiebige Bereich für vor-rumänische Substratforschung. Zwar wäre es durchaus plausibel, dass die Sprache, die wir oben als
Dakisch definiert haben und die potentiell für einige der Substratwörter im Rumänischen die Quelle war, auch andere sprachliche Ebenen wie die Phonologie, Morphologie und Syntax des heutigen Rumänischen beeinflusst hat und auf allen diesen Ebenen unterscheidet sich Rumänisch ja vom (Vulgär-)Lateinischen, aber mangels Kenntnis über die Ausgangssprache lässt sich darüber nicht viel sagen. Oben genannte Autoren versuchen es aber teilweise.
Ob aber diese oben genannten Wörter im Rumänischen alle auf eine Sprache zurückgehen, die von denselben Menschen gesprochen wurde, die antike Schriftsteller wie Herodot als
Daker bezeichnen, ist völlig offen. Ebenso, ob es sich überhaupt um nur éine Sprache handelt. Wir kennen ja (und eben kaum mehr als das) etliche Bezeichnungen für Völker- und Stämme jener Region (Daker, Thraker, Geten, Moesier, Illyrer, …). Zugleich wissen wir, dass es in Südosteuropa in nachantiker Zeit intensiven, variablen Sprachkontakt gegeben hat, wodurch die heutigen Sprachen Albanisch, Makedonisch, Griechisch und Aromunisch und in einem weiteren Kreis auch (Dako-)Rumänisch und weitere südslawische Dialekte Gemeinsamkeiten in Wortschatz und Grammatik zeigen (=„Balkansprachbund“).
Es könnte also – als
ein mögliches Szenario im Rahmen der Kontinuitätsthese – angenommen werden, dass einige nach offiziellem Abzug des römischen Reiches in Dakien verbliebene Römer (z.B. Veteranen, die sich ein neues Leben aufgebaut haben) für die sprachliche Romanisierung ausgereicht haben. Aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen sind über einen unbekannten Zeitraum hinweg nach und nach alle Autochthonen („Daker“) zu deren Sprache gewechselt, haben aber nur unvollständig ein Vulgärlatein gelernt, das mit Elementen ihrer Vorgängersprache(n) durchsetzt wurd eund sich noch heute im Wortschatz des Rumänischen fassen lässt. Das könntest du also als Einfluss der Daker im Sinne deines letzten Punktes werten.
Rein theoretisch hätte Ähnliches natürlich auch im Kontakt mit anderen Sprachen geschehen können, aber wie angedeutet ist das Prestige einer Elite ein typischer Faktor für Sprachwandel und –wechsel. In den Reichen der von dir angesprochenen Goten haben sich keine Prozesse wie hier durchgesetzt (man findet im Gegenteil nur Superstratwirkung, z.B. ital. port. albergo < got. *hairberga), was zeigt, dass dort Bedingungen und kultureller Druck dort anders waren.
Ich bezweifle stark, dass deine Fragen damit beantwortet sind, aber vielleicht hilft dir mein etwas kritisches Geschreibsel als Anregung für weitere eigene Nachforschungen. ;)