Quantifizierung von Unterschieden von Sprachen

Hallo liebe Community,

ich habe mein Thema für meine Masterarbeit gefunden. Ich möchte die Rolle des Marokkanisch-Arabischen in Spanien untersuchen und dabei mit der Rolle des Türkischen in Deutschland vergleichen. Beides sind Migrantensprachen.

Die Arbeit schreibe ich in einem Studiengang namens Migrationsstudien. Ich komme also ursprünglich nicht aus dem linguistischen Bereich, sondern möchte mich mit den sprachlichen Eigenschaften und Voraussetzungen von Migranten beschäftigen.

Jetzt halte ich es für wichtig, die beiden Sprachpaare (Marokkanisch-Arabisch/Spanisch und Türkisch/Deutsch) miteinander zu vergleichen. Es liegt ja auf der Hand, dass, je mehr die Sprachen einander ähneln, desto leichter fällt es MigrantInnen, diese Sprache im Aufnahmeland zu erlernen - und umgekehrt. Deswegen ist mir dieser Sprachvergleich so wichtig.

Am eindrücklichsten fände ich, wenn man die Ähnlichkeit der Sprachen in Zahlen ausdrücken, also quantifizieren könnte, darunter beispielsweise:

- Ähnlichkeit der Wörter, die durch den selben Ursprung bedingt sind (viele spanische Begriffe sind Lehnwörter aus dem Arabischen),
- Häufigkeit der Nutzung dieser Wörter in beiden Sprachen,
- Ähnlichkeit von Syntax und Grammatik,
- Ähnlichkeit der Anwendung der Zeitformen,
- Ähnlichkeit bei der Nutzung von Artikeln,

Ich habe bereits einige Quellen ausfindig gemacht. Leider bieten sie mir nicht das, was ich brauche.

https://wals.info/
Diese Seite ist sicherliche eine wahre Fundgrube. Sie bietet ja zu fast jeder Sprache etwas. Allerdings ist es nicht möglich, Sprachen miteinander zu vergleichen.

Dann habe ich noch diese Seite gefunden: http://www.elinguistics.net/Compare_Languages.aspx
Hier werden zwar die Sprachunterschiede quantifiziert dargestellt, aber nur auf Basis von nur einigen ausgewählten Wörtern. Grammatik etc. wird völlig außen vor gelassen. Das halte ich für sehr dürftig, um daraus eine Ähnlichkeit (oder eben nicht) zwischen zwei Sprachen abzuleiten.

Auch gewisse Stichwörter wie "kontrastive Linguistik", "Interlinguistik" oder "Isomorphismus" haben mich bisher nicht zum Ziel geführt.

Es muss nicht zwangsläufig eine Quantifizierung der Sprachen sein. Evtl. gibt es Fachartikel, die die genannten Sprachen vergleichen. Toll wäre es natürlich, wenn mir jemand einen Artikel oder eine/n AutorIn nennen könnte. Aber ein weiteres Stichwort, zu dem ich witer recherchieren könnte, wäre auch schon super.

Ich freue mich auf Antworten. Vielen Dank im Voraus!

Clemont

(29.06.2020, 12:44:42)Clemont schrieb: Am eindrücklichsten fände ich, wenn man die Ähnlichkeit der Sprachen in Zahlen ausdrücken, also quantifizieren könnte, darunter beispielsweise:

Solche Quantifizierungen sehen zwar schön aus, treffen aber auch nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Ein Projekt, das das mal versucht hat, ist ASJP. Die Frage ist auch, was genau Du mit diese Quantifizierungen untersuchen oder beweisen willst.

Die Quantifizierung scheint mir bei einem so komplexen Phänomen wie Sprache evtl. nur eine Scheingenauigkeit zu bieten. Ich bin kein Typologe, aber ich glaube schon der Vergleich der Komplexität von Sprachen ist äußerst schwierig. Würde es nicht schon reichen, über die Stammbäume aus der Sprachgeschichte zu zeigen, wie nah Sprachen einander (nicht) sind? (da müsste ich aber auch wieder an die SprachgeschichtlerInnen oder TypologInnen verweisen;)

Vorweg ist zu sagen: Eine Formel, in die man (bildlich gesprochen) zwei Sprachen einsetzt und dann einen Ähnlichkeitswert erhält, gibt es in dem Sinne eher nicht nicht. Aus meiner Sicht ist dies unter theoretischen Gesichtspunkten auch nicht möglich. Als LinguistInnen haben wir zwangsweise modellhafte Vorstellungen von Sprache. Ähnlichkeitswerte können sich immer nur auf diese Modelle und die in diesen berücksichtigten Komponenten und Aspekte beziehen.

Die Website unter deinem zweiten Link zum Beispiel verwendet eine Methode, bei der versucht wird, mit statistischen Verfahren auf Basis von Wortähnlichkeiten Aussagen über die historische/"genetische" Entwicklung von Sprachen zu treffen und sie zu Familien zu gruppieren. Ähnliche Studien arbeiten beispielsweise mit Modellen aus der Bioinformatik, um solche phylogenetischen Bäume zu "errechnen". Auch in der Dialektometrie habe ich solche Ansätze gesehen, wo dann zum Beispiel mit Swadesh-Listen und Levenshtein-Distanzen, versucht wurde, Unterschiede zwischen Dialekten zu berechnen. Da muss man sich dann fragen, inwiefern die Resultate für die jeweilige Fragestellung Aussagekraft haben oder nicht. Bei Wortschatzuntersuchungen muss man auch immer schauen, welche Wörter da eigentlich angesehen wurden; denn traditionell geht man davon aus, dass bestimmte Bereiche des Lexikons dafür "empfänglicher" sind als andere (der Kernwortschatz).

Bei der ersten verlinkten Website, WALS, handelt es sich dagegen um eine sprachtypologische Datenbank. Sprachtypologische Arbeiten versuchen gewissermaßen, Sprachen strukturell (und nicht genetisch/historisch) zu vergleichen und systematische Ähnlichkeiten, Unterschiede sowie Zusammenhänge zwischen diesen zu finden. SprachtypologInnen arbeiten zu diesem Zweck oft mit Merkmalen, die oft sehr abstrakt sind, etwa der dominanten Wortstellung im einfachen Satz. Auch hier muss man sich dann wieder fragen, was das für die Fragestellung konkret bedeutet, dass im WALS Spanisch und ägyptisches Arabisch (für maghrebinisches gibt es die Info leider nicht) dieselbe sowie Türkisch und Deutsch jeweils andere Wortstellungen haben haben (SVO, VSO, uneindeutig).


An sich ist "kontrastive Linguistik" schon ein richtiges Stichwort. Die Dinge, nach denen du in deiner Aufzählung fragst, sind, wenn man sie alle selbst bearbeiten möchte, jedoch ausreichend für mehrere Qualifikationsarbeiten (tatsächlich scheint das ein beliebter Typus von Arbeiten zu sehen, dem zumindest ich schon öfter begegnet bin); konstrastive Linguistik ist ein eigenes Forschungsfeld. Die syntaktische Ähnlichkeit kann man zum Beispiel qualitativ beschreiben, indem man sich ein paar typologische Kernmerkmale heraussucht. Fragen zur Wortschatzähnlichkeit kann man mit diversen quantitativen Verfahren bestimmen, Fragen zum Gebrauch beispielweise korpuslinguistisch. Ich denke du müsstet wenn, dann auf existierende Studien zugreifen (wenn es sie gibt), da es nicht realistisch ist, das alles selbst zu erarbeiten. Ich tue mich auch schwer damit, aus der Ähnlichkeit/Unähnlichkeit von zwei Sprachen Aussagen über z.B. Lernaussicht bzw. „Ausgangssituation“ abzuleiten.


Aus meiner Sicht wäre auch eine Frage, welchen Umfang dies in deiner Arbeit einnehmen soll. Vielleicht reicht es ja auch schon einfach zu sagen, dass Türkisch und Deutsch sowie Spanisch und Arabisch historisch gesehen jeweils nicht miteinander verwandt sind (Deutsch und Spanisch schon)? In einer stark linguistisch orientierten Arbeit könnt man dann noch eine grobe typologische Skizze der Sprachen geben (Wortstellung, Kategorien des Verbs, Kategorien des Nomens, morphologischer Typ, Phoneminventargröße, Silbenstruktur, etc.). Diese Infos kann man in der Tat aus WALS ziehen, man muss aber die begleitenden Artikel sehr genau lesen um die Definitionen zu verstehen; sie weichen manchmal auch von denen ab, die in der Linguistik gängig sind. Ich finde es wie gesagt nur wirklich schwierig daraus dann irgendwelche Schlüsse zu ziehen, die über eine reine Beschreibung hinausgehen.


Und wegen des Komplexitätsthema, das @reger angesprochen hatte: Es gibt da durchaus Arbeiten zu (zum Beispiel Miestamo et al. (2008)) und dazu wird auch weiterhin geforscht, soweit ich weiß. Besonders interessant finde ich zum Beispiel den Ansatz von Walter Bisang, der zwischen offener und versteckter Komplexität unterscheidet. Die Idee, so wie ich sie verstanden habe, ist, dass sich bei Sprachen mit geringerer grammatischer Komplexität diese gewissermaßen auf die (semantisch-)pragmatische Ebene verlagert. Leider habe ich mich da auch noch nicht tiefer eingearbeitet.

Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich werde mich wohl mit einem Verweis auf die unterschiedlichen Sprachfamilien begnügen und zusätzlich charakteristische Unterschiede beider Sprachpaare anhand von WALS darstellen.

Trotzdem halte ich so eine Quantifizierung für sehr sinnvoll - sofern man sämtliche Sprachcharakteristika einbezieht und auch entsprechend gewichtet (der Gebrauch von Artikeln fällt meines Erachtens nicht so sehr ins Gewicht wie die Syntax oder die Morphologie)

(07.07.2020, 12:56:21)Clemont schrieb: Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich werde mich wohl mit einem Verweis auf die unterschiedlichen Sprachfamilien begnügen und zusätzlich charakteristische Unterschiede beider Sprachpaare anhand von WALS darstellen.

Vielleicht wären dann Levenshtein-Distanzen etwas. Du suchst die Parameter heraus, die du brauchst, und dann kannst du Werte vergeben für unterschiedlichge Ausprägungen. Das quantifiziert dann Ähnlichkeiten.

(07.07.2020, 12:56:21)Clemont schrieb: Trotzdem halte ich so eine Quantifizierung für sehr sinnvoll - sofern man sämtliche Sprachcharakteristika einbezieht und auch entsprechend gewichtet (der Gebrauch von Artikeln fällt meines Erachtens nicht so sehr ins Gewicht wie die Syntax oder die Morphologie)

"sämtliche Sprachcharakteristika" füllen Bände. Das sind Zigtausende kleine Datenpunkte.
"deines Erachtens" ist aber subjektiv. Wenn man Parameter gewichtet, begibt man sich auf dünnes Eis. Das verzerrt schnell die Darstellung und man setzt sich der Gefahr aus, die Daten (unbewusst oder nicht) so zu manipulieren, dass sie einem ins Konzept passen.

(08.07.2020, 05:36:36)janwo schrieb:

(07.07.2020, 12:56:21)Clemont schrieb: Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich werde mich wohl mit einem Verweis auf die unterschiedlichen Sprachfamilien begnügen und zusätzlich charakteristische Unterschiede beider Sprachpaare anhand von WALS darstellen.

Vielleicht wären dann Levenshtein-Distanzen etwas. Du suchst die Parameter heraus, die du brauchst, und dann kannst du Werte vergeben für unterschiedlichge Ausprägungen. Das quantifiziert dann Ähnlichkeiten.

 
Ich werfe noch den Hamming-Abstand ein. Damit funktioniert das beschriebene Vorgehen so ähnlich auch. Du wählst eine Menge von Merkmalen, die du betrachten möchtest. Beim Vergleich von zwei Sprachen betrachtest du jedes Merkmal und wertest es mit 0 wenn es gleich oder 1 wenn es verschieden ausgeprägt ist. Das kannst du dann aufsummieren und wenn du diese Summe normierst (durch die Anzahl der Merkmale teilst) und von 1 abziehst, erhältst du einen Ähnlichkeitswert zwischen 0 und 1 . Es gibt auch noch weitere Maße, mit denen man hier arbeiten könnten, aber die sind komplizierter. Meiner Meinung nach ist das auch nur sinnvoll bei Merkmalen, die nominalskaliert, also Ausprägungen von Kategorien, sind. Für Merkmale auf einem anderen Skalenniveau gibt es andere/bessere Methoden.

Beispiel:

Wie wir sehen, sind Spanisch und ägyptisches Arabisch also fast gleich^[1] ;). Bei so einem Vorgehen muss man sehr gut begründen können, weshalb man sich für welche Merkmale entschieden hat. Sonst wird es beliebig.

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Fußnoten:

1. Es gibt für marokkanisches Arabisch leider nicht für alle Merkmale Datenpunkte in WALS. Wenn es sie gibt, sind sie jedoch fast immer gleich mit denen des ägyptischen Arabisch. Eine Ausnahme ist aber tatsächlich das letzte Merkmal, das denselben Wert wie im Spanischen hat. Spanisch und Marokkanisches Arabisch sind nach dieser "Metrik" als identisch.