Parallelentwicklung der germanischen Sprachen

Verehrte Kollegen

Mir wurde heute eine Frage gestellt, die ich selbst für mich nicht befriedigend beantworten kann. Es ging um die Aufteilung der germanischen Sprachzweige in nordische und westgermanische Linie, die laut traditioneller Auffassung um das 8. Jhd herum begonnen haben soll.

Die Realität ist ja heutzutage, daß ein halbwechs geübter und gebildeter Muttersprachler aus dem deutschsprachigen Raum, u.A. skandinavische Texte aus heutiger Zeit ansatzweise verstehen kann, wenngleich mit einem gewissen Sinnverlust. Der Übereinstimmungsgrad ist dennoch recht hoch, ein Wikipedia-Artikel auf dänisch lässt sich zum Beispiel noch häufig intuitiv lesen. Auch die Grammatik ist durchaus ähnlich.

Hingegen hört die Lesbarkeit der ahd. Texte aus dem Frühmittelater fast vollständig auf. Ohne Wörterbuch geht da gar nichts, kaum ein Wort hat noch Ähnlichkeiten mit nhd. Die Bedeutung ganzer Wortfelder bleibt vollständig im Dunkeln. Von altnordischen und altniederfränkischen Texten rede ich schon mal gar nicht.

Diese Situation ist aber doch überhaupt nicht plausibel. Wenn die Sprachen sich vor mehr als 1000 Jahren bereits getrennt und seitdem jeweils eigenständig entwickelt haben, muss doch die ältere Sprachstufe der einschlägigen Sprachrichtung der heutigen Sprache ähnlicher sein, als ein Parallelzweig, der seit 1000 Jahren eigenständige Entwicklung macht. Gibt es dazu irgendeine plausible Erklärung ?

Die skandinavischen Sprachen haben in der Hansezeit massenhaft Wörter aus dem Niederdeutschen entlehnt; ich denke, das trägt ganz wesentlich zur Sprachverständlichkeit bei.

Leider lässt du die in dieser Hinsicht interessantesten nordgermanischen Sprachen, Isländisch und (in etwas geringerem Umfang) Färöisch, in deiner Betrachtung weg. :) Für Muttersprachler anderer germanischer Sprachen ist insb. Isländisch in der Regel nicht gut verständlich. Das liegt sicher daran, dass "die Isländer" relativ sprachpuristisch unterwegs sind/waren und sich für alles mögliche eigene Begriffe ausdenken, statt Lehnwörter zu übernehmen. Aufgrund der isolierten Lage ist die Grammatik zudem im Vergleich zu den festlandgermanischen Sprachen deutlich geringeren Entwicklungen unterworfen gewesen, als das bei den meisten anderen germanischen Sprachen der Fall war; seit dem Altnordischen hat sich da nur sehr mäßig etwas getan.

Auf dem Festland wiederum haben wir es mit Sprachen zu tun, die sich kontinuierlich untereinander beeinflusst haben und von außen beeinflusst wurden. Ich denke auch, dass dieser Prozess mit der Zeit beschleunigt wurde, da sich der Kontakt und damit der sprachliche Einfluss immer stärker erhöht hat. Auf Island können wir dagegen vielleicht sehen, was möglicherweise passiert wäre, wenn dieser Beeinflussung nicht stattgefunden hätte..

Eine "vollständige" Erklärung muss sicher noch mehr Aspekte einbeziehen, aber ich denke, dass dies zumindest ein wichtiger Baustein ist.

Zitat:Es ging um die Aufteilung der germanischen Sprachzweige in nordische und westgermanische Linie, die laut traditioneller Auffassung um das 8. Jhd herum begonnen haben soll.

Das hat schon weitaus früher begonnen. Circa 200 v. Chr. hat sich das Ostgermanische, wo insbesondere das Gotische später belegt ist, vom Nordwestgermanischen abgesplittet, das sich dann circa 200 oder 300 nach Christus in Nord- und Westgermanische aufgeteilt hat. (Andere Theorien sagen auch, dass bereits 250 v. Chr. die vier Sprachzweige erkennbar getrennt waren.) Solche Aufteilungs"momente" sind nicht plötzlich, sie sind nur willkürliche Momente in der Zeit, wo ein erkennbarer Unterschied zwischen den Varietäten herrscht. Demnach ist Bairisch bereits erkennbar vom "Standarddeutschen" getrennt. Außerdem heißt das nicht, dass die Sprachen danach nur eigene Bahnen gehen. Noch bis ins Mittelalter waren Altenglisch, Altsächsisch, Altnordisch und so (und ihre Mittel-...-Stadien natürlich) miteinander verständlich. 

Und wie schon erwähnt, Sprachen stehen immer im Austausch. Im Mittelalter gab es den Hanseatischen Sprachenbund, selbst Finnisch und Estnisch haben massenweise Wörter aus dem Mittelniederdeutsch aufgenommen. Im Altfränkischen hatte Altniederländisch massenweise Kontakt zu küsteningväonischen Varietäten, wodurch der nordseegermanische Charakter des Niederländischen kommt. Solche Sprachstammbäume sehen schick aus, aber sind sehr, sehr einseitig und zeigen nie das ganze Bild und wie sich Sprachen heutzutage zueinander verhalten typologisch. Niederländisch ist historisch dem heutigen Deutschen vielleicht näher als es Niederdeutsch ist, aber durch verschiedenste Kontakt- und Einflusssettings sind Niederländisch und Niederdeutsch ziemlich gut gegenseitig verständlich aber keines davon zum Deutschen.
Außerdem musst du bedenken, dass alte Texte ganz oft ein ganz anderes Register bedienen und einen Sprachstil haben als moderne Texte, alleine das lässt viele schon schwitzen. Hat eine Sprache relativ wenig Innovationen gemeinsam mit anderen Sprachen durchgemacht und hat ein implizites, gesellschaftliches Bedürfnis für Purismus über längere Zeit hinweg, kommt auch so etwas wie Isländisch bei heraus, das sehr wohl altnordische Texte fließend lesen kann.
Und man muss gucken, welche Verständlich du meinst. Schriftlich gesehen ist so etwas viel einfach als sie zum Beispiel auditiv wahrzunehmen. 
Südschwedische Varietäten und ostdänische können leichter miteinander kommunzieren, weil sie so nah sind, als weiter entfernte, und Englisch ist weitaus weniger verständlich durch den immensen frankonormannischen Kontakt. Und das ist eben das Zauberwort, all die erwähnten Sprachen haben immer wieder Kontakt gehabt, immer wieder Innovationen und Vokabular ausgetauscht, hatten verschiedene Phasen von Sprachbünden und Überdachungen und waren nie wirklich eigenständig. 
Und hinzu kommt auch die Globalisierung und Digitalisierung, es ist viel wahrscheinlicher mal etwas von anderen Sprachen aufgeschnappt zu haben oder sowieso mehrfach-varietätenmäßig aufgestellt zu sein und so viele gehört zu haben durch Fernsehen und weiteres, was das passive Verstehen stärkt und wenn man Dänisch oder Schwedisch als passiv verständlich bezeichnet, dann eben auch einfache oder Alltagssprachfetzen, keine hochtrabende, poetische Lyrik, die dem Stil aus dem Vormittelalter gleicht. 


Ein interessant zu untersuchendes Ding wäre vielleicht, dass die heutigen synchronen germanischen Varietäten mehr Austausch untereinander hatten und sich implizit vielleicht mehr gleichen als eine heutige Varietät zu ihrem ältesten Dokulekt. (Vor allem da wir keine Zeitreisen haben.)

Guten Abend

Ja, die Argumente mit der Hanse habe ich häufiger schon gehört. Finde ich nur nicht befriedigend, so richtig. Denn es würde ja im Normalfall bei solchen Sprachkontakten darauf hinaus laufen, daß sehr viele Lehnwörter existieren, aber die Sprache an sich noch die alte ist. Sieht man ja bei der Farsi, welches zwar viele arabische Wörter übernommen hat, aber für Araber trotzdem nicht verständlich ist.

Mir scheint eher die Annahme plausibel, daß die Sprachen ihre Beziehungen zueinander viel später und allmählicher aufgegeben haben, als offiziell behauptet. Mir ist sonst das Zustandekommen vieler Ausdrucksweisen nicht verständlich, die mehr oder weniger 1:1 den deutschen Sprachgebrauch abbilden.

z.B.

Zitat:gjensidig forståelig

Dieses "gegenseitig verständlich" - auf welches Substrat ist das z.B. zurückzuführen ? Wohl kaum auf ein niederdeutsches, denn dort würde es heißen

Zitat:wederzijds begrijpelijk[url=https://browse.dict.cc/niederlaendisch-deutsch/begrijpelijk.html][/url]

So Beispiele hats zuhauf, Wörter wie "vilkår" - ist unschwer als "Willkür" zu indetifizieren, bedeutet im dänischen Restriktionen. Im Niederlänischen würde es aber wiederum ganz anders heißen.

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Wie kann ich hier eigentlich Beiträge redaktieren, begreife ich nicht ?

Zitat:Mir scheint eher die Annahme plausibel, daß die Sprachen ihre Beziehungen zueinander viel später und allmählicher aufgegeben haben, als offiziell behauptet. Mir ist sonst das Zustandekommen vieler Ausdrucksweisen nicht verständlich, die mehr oder weniger 1:1 den deutschen Sprachgebrauch abbilden.

Du musst halt daran denken, dass sie nicht den "deutschen Sprachgebrauch" abbilden, sondern Deutsch diesen geteilten, sprachbündlichen genauso abbildet, wie andere Sprachen, nicht als Ursprung sondern als Im-gleichen-Boot-Sitzender. Solche Sprachbünde können auch oft ineinander verschachtelt sein. Ein größerer angenommener Sprachbund ist auch das Standard Average European, worunter zu erklären versucht wird, wieso so viele europäischen Sprachen ähnliche grammatikalische Entwicklungen nehmen.


Und gerade Ausdrucksweisen sind etwas, die gerne mal entlehnt werden. Siehe Deutsch "Das macht Sinn.", was als Anglizismus heutzutage neben "Das ergibt Sinn." steht. So etwas passiert immer wieder, so verabschieden sich Finnen auch mit "Moi Moi", was durch die Hanse vom niederdeutschen "Moin, moin" kam. Alles nichts Ungewohntes und man sieht, wie viel sich Sprachen beeinflussen. (Selbst Familienverwandtschaftstermini wie "Onkel" und "Tante" sind durch das Französische in das Deutsche kommen und haben eigene ersetzt.)

Und Norwegisch "gjensidig forståelig" heißt auf Niederdeutsch "gegensiedig verstabaar", dein Beispiel war Niederländisch. Und "wiederseitig", "wederzijds" etc. lassen sich auch durch Kognaten in vielen germanischen Sprachen nachbauen, sind aber einfach pragmatisch nicht dazu gemünzt, es in dem Zusammenhang zu benutzen.

Dänisch zum Beispiel hat am meisten niederdeutschen Einfluss erfahren, da kann man keinen Satz sagen, ohne nicht niederdeutsche Wörter und phraseologische Entlehnungen zu haben. 

Wenn du dir anschaust, welchen Einfluss Französisch auf Englisch haben kann, wenn es so lange als Majoritäts- und Eroberersprache gesprochen wird, oder wie es Deutsch während der Franzosenzeit verändert hat, wie Norwegisch Bokmål quasi Dänisch ist mit Verkleidung, wie Niederdeutsch die ganzen baltischen Sprachen beeinflusst hat (selbst Estnisch hat 15% seines Vokabulars aus Niederdeutsch, selbst Kaschubisch in Nordpolen benutzt die Endung -ske für weibliche Personen aus dem Niederdeutschen, und selbst Deutsch hat masse Wörter aus dem Niederdeutschen wie Pocken, backen, Boot, Möwe, Binnen- etc.), wie die ganzen Sprache immer wieder Kontakt zueinander haben und sich in verschiedenen Phasen entweder Überdacht haben oder auf gleicher Basis Material ausgetauscht haben (guck doch mal wie schwedisch Finnisch geworden ist), dann verwundert es eigentlich gar nicht, wie ähnlich sich Sprachen geworden sind.