Nomen-Nomen-Konstruktionen im Deutschen

Hallo zusammen :)

Ich bin neu hier im Forum und habe direkt eine Frage. Ich studiere Linguistik im zweiten Semester und beschäftige mich aktuell in einem Kurs (Morphologie) mit Nomen-Nomen-Konstruktionen im Deutschen.

Es ist doch so, dass im Deutschen zwei Nomen nicht hintereinander stehen können, es sei denn:

1. es geschieht durch die Wortstellung, z.B. "Hier können alle Hunde Spielzeug bekommen."
2. durch Genitivkonstruktionen, z.B. "Es ist eine Art Mutprobe", "eine Reihe Verletzter"

Was ist aber mit Konstruktionen wie "ein Glas Milch", "eine Menge Papier" oder "Richtung Norden", "Anfang April"?
Oder Sätze wie "Sie haben auf ihrer Seite Verluste zu beklagen"

Es kommt mir so vor, als ob Nomen-Nomen-Kombinationen gar nicht mal so selten vorkommen. Mich würde interessieren, ob es da Literatur bezüglich der genauen Regeln zu gibt, wann und wie zwei Nomen hintereinander verwendet werden können/dürfen und welche Ausnahmen es gibt. 

Danke schonmal und liebe Grüße,
Ena

Hallo, Ena! Willkommen im Forum. ^^

Es gibt bestimmte Nomen-Nomen-Konstruktionen (folgend NNK), die de facto ungrammatisch sind, aber trotzdem häufig verwendet werden, vor allem in Notizen. Dabei handelt es sich um elliptische Phrasen, in denen die grammatische Beziehung zwischen den beiden Substantiven nicht mehr explizit besteht. Zum Beispiel nenne ich Dateien oder Ordner auf meinem Computer "Fotos Norwegen" oder "Lektorat Masterarbeit", um die wichtigsten Schlagworte auf einen Blick beisammenzuhaben, ohne sie aufwändig mit Relatoren etc. in Verbindung setzen zu müssen (z. B. "Fotos vom Norwegen-Urlaub" oder "Lektorat der Masterarbeit"). In der Masterarbeit, die ich gerade lektoriere, habe ich diese Ungrammatikalität bei der Überschrift "Teilnehmende Umfrage" angemerkt (allerdings auch, weil sie unverständlich ist).

Allerdings gibt es davon abgesehen jede Menge grammatischer NNK. Mir fallen ad hoc folgende Fälle ein:

1. syntaktische Koinzidenz ("Hier bekommen Hunde Spielzeug."; "Sie haben auf ihrer Seite Verletze.")
2. Genitivattribute ("das Klagen Trauernder", "Marias Auto")
3. Maß- und Mengenangaben ("eine Menge Papier", "ein Glas Milch", "eine Reihe Verletzter", "ein Meter Faden")
4. Appositionen ("mein Freund Kalle", "ihr Geburtsort Dresden")
5. Namenszusätze ("Doktor Musterfrau"; "Herr Mustermann")
6. Präpositionsartige ("Richtung Norden", "Anfang April")

Zu 6.: Das habe ich jetzt mal intuitiv so bezeichnet, ist aber keine offizielle Einteilung. Die Substantive verhalten sich dort ein bisschen wie Präpositionen:
"Ich gehe nach/Richtung Norden."
"Ich habe im/Anfang April Zeit."
Hat da jemand einen Terminus parat?

Auch bei "eine Art Mutprobe" bin ich mir gerade unsicher, wie das grammatisch bezeichnet wird. Es handelt sich beim zweiten Element der Phrase nicht um ein Genitivattribut, sonst müsste es ja z. B. "eine Art Papiers" heißen statt "eine Art Papier". Vielleicht hat jemand anders einen Terminus auch dafür?

Jedenfalls würde ich sagen, dass es im Deutschen eine ganze Reihe Möglichkeiten von NNK gibt. Eine Reduktion auf die ersten beiden Punkte meiner Liste oben habe ich noch nie mitbekommen und wäre auch unsinnig.

Liebe Grüße
Yaouoay

Das sind ja auch manchmal keine "Kombinationen" oder "Konstruktionen" (zumindest nicht auf morphologischer Ebene), sondern – zufällige – Juxtapositionen:

Es kauft ein Mann Kindern Ohrenschützer.

Dass hier drei Nomen hintereinander stehen ist ein Artefakt der etwas gestelzten Satzkonstruktion. Das macht die drei Wörter aber nicht zu einer Kombination, die einem Kompositum o.ä. oder einem Konstrukt wie "König Fußball" nahe käme.

(22.07.2021, 19:01:17)la.linguiste schrieb: Was ist aber mit Konstruktionen wie "ein Glas Milch", "eine Menge Papier" oder "Richtung Norden", "Anfang April"?
Oder Sätze wie "Sie haben auf ihrer Seite Verluste zu beklagen"

Es kommt mir so vor, als ob Nomen-Nomen-Kombinationen gar nicht mal so selten vorkommen. Mich würde interessieren, ob es da Literatur bezüglich der genauen Regeln zu gibt, wann und wie zwei Nomen hintereinander verwendet werden können/dürfen und welche Ausnahmen es gibt. 

Sätze wie Sie haben auf ihrer Seite Verluste zu beklagen fallen unter den Bereich, den @janwo als 'zufällige Juxtapositionen' bezeichnet hat, die in deinem Post unter '1. geschieht durch Wortstellung' fallen. Dass hier Seite und Verluste aufeinander folgen, liegt an der Position ihrer jeweiligen Phrasen bzw. Satzglieder im Satz. Das Lokaladverbial auf ihrer Seite könnte im Mittelfeld auch woanders stehen, z.B. hinter Verluste: Sie haben Verluste auf ihrer Seite zu beklagen. Schon folgen nicht mehr zwei Substantive aufeinander. Diese Art von Aufeinanderfolgen ist eben deshalb 'zufällig' und, wie du schon richtig am Anfang bemerkt hast, ein anderer Typ als die anderen Kombinationen, die du aufführst.

Bei ein Glas Milch spielt die von @Yaouoay angesprochene Mengenangabe eine Rolle, die ähnlich funktioniert wie bei eine Menge Papier. Sowohl Milch als auch Papier haben keinen wirklichen morphologischen Plural (*Milche, Papiere gibt es zwar, aber das bezeichnet etwas anderes als generell eine Ansammlung von Papier). Finden kann man Informationen in Grammatiken dazu bspw. unter den Stichworten 'Stoffsubstantive' oder 'Plurallosigkeit bei Stoffsubstantiven' und 'Sorten-Plural'. Da wirst du beispielsweise bei Eisenberg (2013) oder Helbig/Buscha (2013) fündig werden, denke ich. Fälle wie diese gelten gleichzeitig hinsichtlich ihrer Relation als sog. 'enge Appositionen' (unter diesem Begriff findest du es dann in den Grammatiken, du hattest ja um Literatur gebeten), was dann auch Fälle wie die schlaue Fragenstellerin Sabine oder das Bundesland Niedersachsen umfasst. Ich vermute, auch Fälle wie Richtung Norden oder Anfang April wären damit zu beschreiben?



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Eisenberg, Peter (2013): Der Satz. Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart: J.B. Metzler. 4. Auflage.
Helbig, Gerhard / Joachim Buscha (2013): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Auslängerunterricht. Klett.

Hallo zusammen,

Vielen Dank für die wirklich ausführlichen Antworten!

Nachdem ich mich nun ein bisschen durch die Literatur gelesen habe (die Grammatiken, die @lingucat empfohlen hat, waren sehr hilfreich) würde ich N+N-Konstruktionen, die durch die Wortstellung entstehen, definitiv auch als syntaktische oder zufällige Juxtapositionen bezeichnen. Konstruktionen wie "Anfang April" fallen schlicht unter die Kategorie 'Monatsnamen', solche wie "der Kontent Amerika" unter 'geographische Bezeichnungen' (nach Helbig 2003). Neben den Eigennamen gibt es dann noch die Numerativkonstruktionen in Form von Maß- und Mengeneinheiten: "ein Glas Milch" (und natürlich die Genitivattributionen).

Ich habe mich übrigens dazu entschieden, eine Hausarbeit in diesem Kurs zu schreiben, und zwar über insbesondere metaphorische Maß- und Mengeneinheiten innerhalb von Numerativkonstruktionen (z.B. "ein Schuss Ironie", "ein Prise Anstand"). Da ist es auch interessant zu sehen, welche Mengenangaben überhaupt möglich sind (zwei Schuss Rum versus *zwei Schuss Ironie). Das aber nur nebenbei.

Lieben Dank nochmal für die Antworten und Literatur-Tips,
Ena