Komposita und deren Funktion

Hallo liebe LinguistInnen

Ich stehe vor folgendem Problem (von dem ich nicht mal sicher weiss, ob ich es der richtigen Kategorie zugewiesen habe).

Ich bin Historiker und untersuche schweizerische Zeitungstexte aus dem 19. Jahrhundert - auch in der Schweiz u.a. das Jahrhundert der wachsenden Bedeutung des Nationalismus. Linguistisch beschäftigt mich folgendes Phänomen: Es häufen sich in auffälligem Masse (Determinativ-)Komposita, bei denen das Lexem 'Schweiz' mit anderen Lexemen kombiniert wird. Beispiele sind: Schweizerherzen, Schweizerbrust, Schweizerhimmel, Schweizerboden, Schweizerblut, Schweizerruhm, Schweizerbürger, Schweizerberge, Schweizerkanton, Schweizerregierung usw.

Meine Fragen:
- Welche Erklärungen sind für diese Häufung möglich?
- Darf von einem Zusammenhang zum 'ideengeschichtlichen' bzw. 'ideologischen' Kontext ausgegangen werden? Wenn ja: Wie funktioniert dieser?
- Ohne grössere entsprechende Korpora untersucht zu haben: Kann man davon ausgehen, dass dieses Phänomen typisch ist für das 19. Jahrhundert?

Falls die Fragen zu wenig verständlich sind, kann ich gerne versuchen, meine Ausführungen zu präzisieren.

Beste Grüsse und vielen Dank.

(18.09.2019, 12:31:02)romanov schrieb: - Welche Erklärungen sind für diese Häufung möglich?

Gesellschaftliche Modeerscheinungen. Du hast es ja selbst schon angedeutet:

(18.09.2019, 12:31:02)romanov schrieb: - Darf von einem Zusammenhang zum 'ideengeschichtlichen' bzw. 'ideologischen' Kontext ausgegangen werden? Wenn ja: Wie funktioniert dieser?

Was meinst Du mit "funktioniert"?
Wenn Nationalismus gerade chic ist, dann wird eben auch versucht, vieles national(istisch) einzufärben. 

(18.09.2019, 12:31:02)romanov schrieb: - Ohne grössere entsprechende Korpora untersucht zu haben: Kann man davon ausgehen, dass dieses Phänomen typisch ist für das 19. Jahrhundert?

Nicht nur. Das 20. Jahrhundert hatte ja auch noch genug mit "Deutschland Deutschland über alles" zu kämpfen. Und die inflationäre Verwendung von "America(n)" in den USA bis zum heutigen Tag ist ja eigentlich genau dasselbe.

(20.09.2019, 09:07:32)janwo schrieb:

(18.09.2019, 12:31:02)romanov schrieb: - Welche Erklärungen sind für diese Häufung möglich?

Gesellschaftliche Modeerscheinungen. Du hast es ja selbst schon angedeutet:

(18.09.2019, 12:31:02)romanov schrieb: - Darf von einem Zusammenhang zum 'ideengeschichtlichen' bzw. 'ideologischen' Kontext ausgegangen werden? Wenn ja: Wie funktioniert dieser?

Was meinst Du mit "funktioniert"?
Wenn Nationalismus gerade chic ist, dann wird eben auch versucht, vieles national(istisch) einzufärben. 

(18.09.2019, 12:31:02)romanov schrieb: - Ohne grössere entsprechende Korpora untersucht zu haben: Kann man davon ausgehen, dass dieses Phänomen typisch ist für das 19. Jahrhundert?

Nicht nur. Das 20. Jahrhundert hatte ja auch noch genug mit "Deutschland Deutschland über alles" zu kämpfen. Und die inflationäre Verwendung von "America(n)" in den USA bis zum heutigen Tag ist ja eigentlich genau dasselbe.

Mit ein wenig Verspätung: vielen Dank für die Antwort!

Dass es so etwas wie eine Modeerscheinung ist, entspricht durchaus meiner Annahme. Kern meines Problems ist aber, dass man ja Begriffe auch mittels (separaten) Attributen entsprechend 'einfärben' könnte (Schweizer Blut statt Schweizerblut). Oder anders formuliert: Gibt es sprachhistorisch bzw. linguistisch typische Kontexte, in denen Wörter beginnen, zusammenzuwachsen? Und mit Bezug zur Pragmatik: Dass ein Determinativkompositum eine andere Funktion bzw. Bedeutung hat bzw. einen Begriff stärker 'einfärbt' als ein separates Attribut - gibt es dazu Arbeiten oder hat dieses Phänomen einen Namen?

Da kommen wir in die Haarspaltereien, ob schweizer Blut dasselbe denotiert und konnotiert wie Schweizerblut. Ich glaube, dass es das nicht tut. Durch ein Kompositum schaffen wir eine engere Verbindung als durch ein Epitheton, wir bilden quasi einen festen Begriff, schaffen eine neue Klasse. Das schweizer Blut ist weiterhin vorrangig einfach Blut, nur eben schweizerisches; mit dem Kompositum machen wir eine neue Kategorie auf, die das Schweizerblut dem Heldenblut oder anderen Bluten^[1] gegenüber- oder zur Seite stellt.

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Fußnoten:

1. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich diese Wortform gebrauche 

(01.10.2019, 14:54:07)janwo schrieb: Da kommen wir in die Haarspaltereien, ob schweizer Blut dasselbe denotiert und konnotiert wie Schweizerblut. Ich glaube, dass es das nicht tut. Durch ein Kompositum schaffen wir eine engere Verbindung als durch ein Epitheton, wir bilden quasi einen festen Begriff, schaffen eine neue Klasse. Das schweizer Blut ist weiterhin vorrangig einfach Blut, nur eben schweizerisches; mit dem Kompositum machen wir eine neue Kategorie auf, die das Schweizerblut dem Heldenblut oder anderen Bluten^[1] gegenüber- oder zur Seite stellt.

Also wenn du mir dazu eine Literaturangabe hättest (Komposita schaffen eine engere Verbindung bzw. schaffen einen festen Begriff und eine neue Kategorie), wäre das absolut genial. Genau darum geht es!

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Fußnoten:

1. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich diese Wortform gebrauche 

(01.10.2019, 15:30:31)romanov schrieb: Also wenn du mir dazu eine Literaturangabe hättest (Komposita schaffen eine engere Verbindung bzw. schaffen einen festen Begriff und eine neue Kategorie), wäre das absolut genial. Genau darum geht es!

Das ist keine unübliche Aussage und ich weiß nicht ob es dafür wirklich eine Quelle gibt (ein bisschen, wie bei 'Folk Theorems' in der Mathematik). Spezifische Literatur^[1] kenne ich daher dazu nicht, zwischenzeitlich würde ich aber schon mal anführen, dass man das im Prinzip auch schon aus strukturalistischen Grundkonzepten (Paradigma/paradigmatische Beziehung) herleiten kann. In der Adjektiv-Nomen-Konstruktion steht 'schweizer' hier in Opposition zu 'liechtensteiner', aber auch zu 'blauem' oder 'dickem Blut'. Das Nomen+Nomen-Kompositum 'Schweizerblut' steht, wie janwo schon meinte, in Opposition nur zu anderen Arten von Blut; die Menge der kontrastierenden Begriffe scheint mir eingeschränkter.

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Fußnoten:

1. In Bybees Morphologie Buch von 1985, in dem sie auch das Relevanzprinzip erklärt, könnte dazu vielleicht etwas stehen; das schaue ich noch mal nach.

(01.10.2019, 18:12:10)thf schrieb:

(01.10.2019, 15:30:31)romanov schrieb: Also wenn du mir dazu eine Literaturangabe hättest (Komposita schaffen eine engere Verbindung bzw. schaffen einen festen Begriff und eine neue Kategorie), wäre das absolut genial. Genau darum geht es!

Das ist keine unübliche Aussage und ich weiß nicht ob es dafür wirklich eine Quelle gibt (ein bisschen, wie bei 'Folk Theorems' in der Mathematik). Spezifische Literatur^[1] kenne ich daher dazu nicht, zwischenzeitlich würde ich aber schon mal anführen, dass man das im Prinzip auch schon aus strukturalistischen Grundkonzepten (Paradigma/paradigmatische Beziehung) herleiten kann. In der Adjektiv-Nomen-Konstruktion steht 'schweizer' hier in Opposition zu 'liechtensteiner', aber auch zu 'blauem' oder 'dickem Blut'. Das Nomen+Nomen-Kompositum 'Schweizerblut' steht, wie janwo schon meinte, in Opposition nur zu anderen Arten von Blut; die Menge der kontrastierenden Begriffe scheint mir eingeschränkter.

Auch hier vielen Dank für die Hilfe. Wie gesagt ist es eine historische Arbeit, und Ausflüge in den linguistischen Strukturalismus sind da schon ungemein weit weg... Also wenn das irgenwie etwas konkreter geht, wäre ich enorm froh.

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Fußnoten:

1. In Bybees Morphologie Buch von 1985, in dem sie auch das Relevanzprinzip erklärt, könnte dazu vielleicht etwas stehen; das schaue ich noch mal nach.