Formale Semantik: Funktionismus und Konjunktivismus

Paul Pietroski („Events and Semantic Architecture“) stellt Funktionismus und Konjunktivismus einander gegenüber.
Funktionismus ist im Wesentlichen, was als Montague-Grammatik bekannt ist und auf Freges Gegenüberstellung von Funktion und Gegenstand zurückgeht:
Peter schläft
schläft ist (ich ignoriere mal die Intensionalität, derentwegen Welten ins Spiel kamen) vom Typ <e,t> und wird interpretiert als Funktion, die Gegenstanden Wahrheitswerte zuordnet. Der Wahrheitswert von Peter schläft ergibt sich aus der Anwendung dieser Funktion auf Peter.
Pietroski zieht Konsequenzen aus Davidsons Analyse von Handlungssätzen: Peter schläft ist folgendermaßen zu interpretieren:
Es gibt ein Ereignis e derart, dass e ein Schlafen ist und Peter der Aktant ist:
Ve ((Schlafen (e) & Aktant (Peter, e))
Ein Vorteil ist, dass Peter schläft lange so gedeutet werden kann:
Ve ((Schlafen (e) & Aktant (Peter, e) & Lange (e))
Nach alter typentheoretischer Interpretation würde man
lange mit dem Typen <<e,t>, <e,t>> versehen und dann kategorialgrammatisch die Interpretation von lange auf die Interpretation von schläft anwenden. Das Ergebnis, die Interpretation von schläft lange, wäre vom Typen <e,t> und würde man wiederum auf die Interpretation von Peter, also Peter, anwenden.
Wenn man Ve ((Schlafen (e) & Aktant (Peter, e) & Lange (e)) zugrunde legt, entsprechen den drei Wortformen im Satz demgegenüber drei gleichrangige Konjunkte. Das sieht nett aus. Bin gespannt, wie man das bzgl. der Kompositionalität handhabt (im Internet findet sich ein Aufsatz von Champollion, der das wahrscheinlich thematisiert).

Verzeih die naive Nachfrage, aber wo genau ist hier die Frage oder der Diskussionsansatz? Was übersehe ich?

(09.06.2019, 19:04:50)janwo schrieb: Verzeih die naive Nachfrage, aber wo genau ist hier die Frage oder der Diskussionsansatz? Was übersehe ich?

Habe ich lange nicht reingesehen. Das Buch liegt auf dem Haufen zum Abarbeiten in einem bestimmten Kontext. 

Also: Der Standard, den man in formaler Semantik lernt, ist, dass Satzteilen syntaktische Kategorien zugeordnet werden und diesen Kategorien semantische Typen entsprechen. Wenn einem Ausdruck A ein Typ <a,b> zugeordnet ist und einem nebengeordneten Ausdruck B ein Typ <a>, dann soll die Interpretation der Folge AB der Wert der Interpretation von A (eine Funktion) für die Interpretation von B als Argument sein.

Beispiel:

Willi schwitzt.

"schwitzt" wird interpretiert als Funktion, die jedem Individuum 1 oder 0 (je nach Schwitzen oder Nichtschwitzen) zuordnet. "Willi" wird interpretiert als Individuum. Wenn Willi zu den Schwitzenden gehört, liefert die Interpretation von "schwitzt" für Willi den Wert 1.  Das setzt eine Zuordnung von Interpretationen voraus, in der Argumente zu Funktionen 'passen'.    Alles nach Montague, Lewis, zurückgehend auf Frege, Husserl, Russell.

Davidson hat dann in den Sixties für Handlungssätze eine konjunktionale Interpretation vorgeschlagen, mit Superbegründung, toller Aufsatz "The Logical Form of Action Sentences".

Beispiel:

Willi schwitzt furchtbar.

Es gibt ein Ereignis e derart, dass e ein Schwitzen und furchtbar ist und Willi der Aktant ist.

Pietroski meint, dass eine derartige konjunktionale Interpretation grundlegender ist als eine Funktion-Argument-Zuordnung.

Für

Willi schwitzt furchtbar

wäre die klassische formale Interpretation ja so, dass die Interpretation von furchtbar auf die Interpretation von schwitzt und die Interpretation von schwitzt furchtbar auf die Interpretation von Willi angewandt wird.

Stechow (wenn ich es richtig sehe) war so nett, Davidsons obermäßig geilen Aufsatz (ohne die späteren hundert Bemerkungen) ins Netz zu stellen:

http://www.sfs.uni-tuebingen.de/~astecho...vidson.pdf

Und für den funktionistischen Ansatz empfehle ich - wie immer - GAMUT II.

Ich sehe gerade, dass hier verloren geht, dass "furchtbar" mit Bezug auf "schwitzen" anders ist als mit Bezug auf Willi. Komisch, das war gerade, was einst Bartsch (oder Montague oder Partee?) zu <<e,t>,<e,t>> bzgl. "kleiner" in "Jumbo ist ein kleiner Elefant" motivierte. Stecke gerade gar nicht drin.
Aber noch mal an einem Beispiel, das näher an Davidsons ist:

Willi schmiert ein Brötchen im Badezimmer

Es gibt ein Ereignis, das ein Brötchenschmieren ist und im Badezimmer stattfindet

Das ist wohl intuitiver als die funktionistische Idee, dass "ein Brötchen" "schmieren" modifiziert und "im Badezimmer" "schmiert ein Brötchen" modifiziert.

Was mir bei den im Forum immer wieder vorkommenden Fragen zu 'formaler Semantik' auffällt, ist:

Proseminare vermitteln offenbar den Funktionismus (Montague …) als kanonischen Stoff.    Die umfangreichen philosophischen Voraussetzungen dieser Theorien scheinen überhaupt nicht weiter von Interesse zu sein - dafür müsste man auf Husserl (4. Logische Untersuchung) und Frege eingehen. Dass die bloß formalen Übungen Studenten abschrecken oder anöden, liegt dann sehr nahe, und die Sache wird allenfalls noch zum Thema für Informatiker.
Pietroski ist nur ein - recht spätes - Beispiel für alternative Ansätze. Gerade in den 80ern verbreitete sich die Situationssemantik. Das Schweigen darüber in Proseminaren ist merkwürdig.

Ich kenne mich da leider überhaupt nicht gut aus. Mein Eindruck war bisher jedoch, dass formale Semantik, wenn sie im Linguistik-Studium überhaupt gelehrt wird (was zum Beispiel an meinen Studienorten nicht der Fall war), an den Instituten regulärer Stoff ist, die auch in der Syntax überwiegend oder ausschließlich einen formalen Ansatz vermitteln (also in aller Regel Chomskys generative Grammatik). Daher war ich davon ausgegangen, dass es eine gewisse Affinität zwischen Chomskys und Montagues Ansichten gibt (auch wenn das im ersten Moment hinsichtlich des Status der Semantik in dieser Phase der generativen Grammatik ungewöhnlich erscheinen mag), die zu dem von dir beschriebenen Sachverhalt führt. Kennst du dich da vielleicht aus und kannst etwas dazu sagen? Hier jedenfalls ein Blog-Beitrag von Henning Lobin, der sich auch ein bisschen in diese Richtung lesen lässt: https://scilogs.spektrum.de/engelbart-ga...-ein-mord/

Weiterhin ist mir nicht klar, inwiefern vertiefte Kenntnisse in diesem Feld wirklich nennenswert in der Linguistik an sich vorhanden sind und erzielt werden, oder sie doch eher Transferwissen und Rezeption von Ergebnissen anderer Disziplinen wie Mathematik, Philosophie und Informatik sind.

Generell kann man sich ja die Frage stellen, weshalb bestimmte Theorien (in einzelnen Teilgebieten) erfolgreich sind und andere nicht. Mir ist zum Beispiel kein Germanistik-Institut bekannt, dass in seinen Syntaxeinführungen schwerpunktmäßig die Meaning Text Theory oder Role and Reference Grammar vermittelt  . Das ist dann vielleicht eher eine soziologische Frage danach, wie sich einzelne wissenschaftliche Diskurse herausbilden, beeinflussen, etc.

Da Montagues Theorie und Chomskys Theorie wohl eher Konkurrenten waren, wäre eine solche Affinität vielleicht in erster Linie charakterlich bedingt -> die Persönlichkeiten der Dozenten. Tatsächlich konzentrierten sich in den Neunzigern an der TU Berlin die allgemein 'Theoriefreundlichsten' am ehesten auf generative Syntax einerseits und auf formale Semantik andererseits.

In der damals dort noch vertretenen Semiotik gab es eine Sonderstellung: Roland Posner verfolgte eine Theorie, in der sämtliche Zeichenprozesse - von der einfachen Indikation (Rauch zeigt Feuer an) bis zur Konvention (Klingeln bedeutet, dass der Bus losfährt) - mit ein- und demselben formalen Apparat beschrieben werden sollten. Das war durchaus vielversprechend  (https://www.semiotik.tu-berlin.de/filead...ending.pdf ), schreckte aber viele offenbar 'ästhetisch' ab, die irgendwie zu szenebezogene Mode- oder Jugendkulturanalysen neigten, ohne dabei eine Theorie zu verfolgen. Zu erwähnen ist dabei, dass derartige Anwendungen durchaus auch die Theoretiker interessierten, diese aber die Anwendung einer Theorie als das eigentlich Erkenntnisfördernde begriffen und daher ihre Energie in den Beschreibungsapparat steckten.

In der Tat kamen die wichtigsten theoretischen Anwendungen wohl von Philosophen und Logikern wie dem von mir oben genannten Davidson.