Ich wäre grundsätzlich misstrauisch, wenn mir jemand etwas als "
die Lehrmeinung" verkauft. Das ist allenfalls in den dogmatisch gebundenen Fächern so, die damit dann ihr Recht verlieren, sich "Wissenschaft" zu nennen. Selbst Dinge wie Evolution oder Gravitation sind letztendlich "nur" Theorien die von sehr großen Mehrheiten der Fachwelt für das nach derzeitigem Stand der Dinge Plausibelste gehalten werden.
In den Geisteswissenschaften herrscht ja ein ganz anderer Spielraum. Es liegt bei vielen der Themen in der jeweiligen Natur der Sachen, dass man sie nicht exakt vermessen kann. Und überall, wo Interpretation möglich ist, gibt es auch das Potential, die Sachverhalte auf mehr als eine Weise zu interpretieren. Mitunter gibt es da sehr klare Mehrheiten, aber so wirklich unabänderliche und unumstrittene Lehrmeinungen gibt es da eigenrlich nicht. Ich "verkaufe" in meinem grundkurs Linguistik auch viele Informationen, an dnen hinten unterschiedlich große "Aber" dranhängen.
Weil ich's gerade abgehandelt habe ein Beispiel aus der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Es gibt einen relativ großen Konsens darüber, dass es eine Indo-Europäische Sprachfamilie gibt. Über deren genauen Stammbaum und den Status einiger Trümmersprachen herrscht schon gößerer Dissens. Über eventuelle Zusammenhänge jenseits dieser Familie (ich sage nur:
Eurasiatisch oder
Nostratisch) wird schon so herzhaft gestritten, dass man als "Lehrmeinung" bestenfalls anführen darf, dass hierüber eben gestritten wird. Wissen, wirklich mit naturwissenschaftlicher Sicherheit wissen können wir viele dieser Zusammenhänge nicht, so lange wir nicht irgendeine Form der Zeitreise zur Verfügung haben. Bis dahin reicht ja, ähnlich wie in manchen Bereichen der Paläontologie, schon ein einziger Zufalls(be)fund, um ganze Theoriegebäude und Weltbilder nachhaltig zu ershüttern. Insofern sollte jede noch so sicher geglaubte Meinung mi einer gesunden Distanz betrahtet werden.
Dem klassischen Geisteswissenschaftler sagt man ja das kritische Denken, das Hinterfragen und das Die-Dinge-Von-Mehreren-Seiten-Sehen als Tugenden nach. Von da her haben Lahrmeinungen bei unsereins einen etwas schwereren Stand.
Es mag immer Kollegen geben, die ihre Sicht der Dinge für die einzig richtige und/oder einzig erwähnenswerte Meinung halten und dies auch ihren Studenten oder der Presse gegenüber so verkaufen. Ja, es gibt sicher auch in beiden Zuhörerkreisen viele, die lieber eine Interpretation serviert bekommen wollen, als sich mit der Abwägung verschiedener Meinungen zu befassen.
Fazit: Wenn ich von
Lehrmeinung(en) rede, dann nahezu ausschließlich mit unbestimmten Artikeln und/oder Qualifikationen wie
gängige,
weit verbreitete usw.